Vernichtungslager Sobibór: Das gefundene Amulett
Wo das Vernichtungslager Sobibór stand, wurde ein Anhänger entdeckt. Unser Autor hat dessen Geschichte recherchiert: Er gehörte Karolina Cohn.
Der Anhänger ist dreieckig, die Kanten sind 2,5 Zentimeter lang. Oben ist ein Ring eingefasst, mit dem er an einer Kette befestigt werden kann. Auf der Vorderseite trägt das aus Silber gefertigte Amulett das Datum „3. Juli 1929“ und die Ortsbezeichnung „Frankfurt a. M.“. Darüber steht in hebräischer Schrift „Mazal tov“, „viel Glück“. Auf der Rückseite finden sich der hebräische Buchstabe „He“, der für den Namen Gottes steht, und drei Davidsterne.
Das Amulett ist alles, was von einem Menschen übrig geblieben ist.
Eine verlassene Gegend im Dreiländereck von Polen, der Ukraine und Weißrussland. Nahe eines Bahnhofs mit verrosteten Schienen breiten sich schlanke Pinien aus, die erst in den 1940er Jahren gepflanzt wurden, um ein Menschheitsverbrechen zu verbergen. Nichts sollte kenntlich bleiben vom Vernichtungslager Sobibór im von den Deutschen besetzten Polen, in dem die Nazis zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 bis zu 250.000 Juden ermordeten. Das Lager wurde aufgelassen, die Baracken wurden abgerissen, die Toten verbrannt.
Hier hat der Archäologe Yoram Haimi Hinterlassenschaften von Ermordeten gefunden. Seit zehn Jahren gräbt der Israeli zusammen mit polnischen Kollegen an der früheren Mordstätte, deren Topografie lange unbekannt geblieben war; unterstützt wird er von der Jerusalemer Gedenkstätte Jad Vaschem. Er fühle sich wie ein Kriminalist in einem forensischen Labor, sagt der 55-Jährige. Sie haben die Fundamente der Gaskammern entdeckt und konnten die Lage der hölzernen Baracken bestimmen. Sie fanden eine Halskette mit Davidstern, eine Damenarmbanduhr, Brillen, Kämme, Löffel und Gabeln, weiteren Schmuck – mehr als 3.000 solcher Gegenstände.
Haimi ist in Sobibór auch mit seiner eigenen Familiengeschichte konfrontiert: „Zwei meiner Onkel sind im März 1943 von Paris nach Sobibór deportiert und dort ermordet worden“, sagt er. Wie er das aushält? „Ich versuche den Job und die Familie zu trennen. Aber manchmal geht das nicht. Dann muss ich eine Pause machen.“
Im Oktober 2016 graben Haimi und seine Kollegen an der Stelle, an der die Baracke stand, wo sich die weiblichen Opfer ausziehen mussten und ihnen die Haare geschoren wurden, bevor sie im Laufschritt in die Gaskammern getrieben wurden. „Himmelfahrtsstraße“ nannten die Täter diesen 150 Meter langen Weg. Hier entdeckt ein polnischer Arbeiter das Amulett. Experten von Jad Vaschem vermuten, dass es zwischen die Dielenbretter der Baracke gefallen ist und im Erdboden verschwand, 1942 oder 1943.
Wem aber hat es gehört?
Am 15. Januar 2017 macht Jad Vaschem auf den Fund des Amuletts aufmerksam. Die Meldung findet weltweit Beachtung. Die Gedenkstätte bittet Verwandte der früheren Besitzerin, sich zu melden. Am selben Tag beginnt unsere Suche in Archiven, Museen und Gedenkstätten, unter Judaica-Experten und Historikern. Sie führt von Frankfurt nach Sobibór, im Zickzackkurs um einen Lebensweg herum, sie bleibt in Sackgassen hängen und findet neue Wege. Sie bleibt unvollständig, zeigt aber, dass Geschichte auch nach dem Tod der letzten Zeitzeugen erzählbar bleiben wird.
War Karolina Cohn mit Anne Frank verwandt?
33 Jahre nach Kriegsende, mit Datum vom 6. April 1978, füllt eine Sophie Rollmann aus Zürich ein Formblatt von Jad Vaschem aus. Handschriftlich zeigt sie den Tod von Karolina Cohn an, geboren am 3. Juli 1929 in Frankfurt am Main. Karolina Cohn sei am 11. November 1941 von Frankfurt nach Minsk in Weißrussland deportiert und 1945 für tot erklärt worden. Als Verwandtschaftsgrad gibt Rollmann „Cousine 2. Grades“ an. Das Gedenkbuch des deutschen Bundesarchivs bestätigt, dass Karolina das einzige an diesem Tag geborene jüdisches Kind in Frankfurt ist.
Sie muss die Besitzerin des Amuletts gewesen sein, sind sich die Experten von Jad Vaschem sicher. Auf niemanden sonst passen die Angaben auf dem Anhänger. Doch Sophie Rollmann ist 1985 verstorben, über Verwandte nichts bekannt.
Heute, in der Zeit, in der die letzten Überlebenden der Schoah hoch betagt sterben und bald niemand mehr da sein wird, der die Geschichte aus erster Hand erzählen kann, sind die Dokumente des Massenmords sorgfältig in Archiven verwahrt. Und sie werden auch noch gelesen werden können, wenn selbst die Enkel der Zeitzeugen verstorben sind. Was erzählen sie über Karolina Cohn?
Der Internationale Suchdienst im hessischen Bad Arolsen, 1946 im Nachkriegschaos gegründet, um den Überlebenden Hilfe bei den Nachforschungen nach ihren Angehörigen zu ermöglichen, verwahrt rund 3 Millionen Dokumente. Darunter befindet sich die Frankfurter Deportationsliste vom 11. Oktober 1941. „II. Transport nach Polen“ ist oben auf der ersten Seite der bräunlich vergilbten Blätter notiert – gemeint ist damit die zweite Deportation aus Frankfurt. Darunter steht: „wahrscheinlich Kowno“, wobei die Stadt in Litauen später durchgestrichen und durch „Minsk“ ersetzt wird. Es folgen in Maschinenschrift die Namen der Deportierten, säuberlich nach Namen, Vornamen, Adresse, Geburtsdatum und -ort geordnet. Von den vermutlich 1.042 Menschen, die transportiert werden, überleben neun.
Auf der fünften Seite findet sich „Cohn, Karolina S.“ – das S. steht für ihren Zwangsvornamen Sara – unter der Wohnadresse Thomasiusstraße 10 in Frankfurt, geboren am 3. 7. 29 in Frankfurt. Auf derselben Seite stehen die Namen der Eltern Else und Richard Cohn und der von Karolinas kleiner Schwester Gitta. Es sind die letzten papierenen Lebenszeichen der Familie.
Ihr Amulett trägt Karolina wohl von ihrer Geburt an. Der Judaika- und Numismatik-Experte Ira Rezak aus New York kennt eine ganze Reihe ähnlicher Anhänger. Diese wurden, so Rezak, einer jahrhundertelangen jüdischen Tradition folgend, zur Geburt als Talisman hergestellt, ursprünglich ausschließlich für Knaben. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an aber bekamen auch neu geborene Mädchen ein solches Amulett geschenkt, gefertigt meist aus Silber oder Gold. Angesichts der hohen Kindersterblichkeit sollte das Geburtsamulett das Leben der Kleinen beschützen. Die Aufschrift „Mazel tov“ entspricht nicht der Tradition, aber „könnte erklären, warum eine 1929 geborene Person diesen Viel-Glück-Talisman noch als junge Erwachsene getragen hat“, sagt Ira Rezak.
Anne Frank, im selben Jahr wie Karolina Cohn in Frankfurt geboren, trug einen fast identischen Talisman, was Jad Vaschem zunächst vermuten lässt, sie und Karolina könnten verwandt gewesen sein. Yad-Vashem-Mitarbeiter Yoram Haimi berichtet jedoch, dass die Jerusalemer Forschungs- und Gedenkstätte nach der Veröffentlichung des Funds von Sobibór innerhalb weniger Wochen Informationen über acht nahezu identische Anhänger erhalten hat, davon zwei in Israel und sechs in den USA. Sie gehören Jüdinnen, die vor dem Holocaust hatten fliehen können. Alle Amulette betreffen ausschließlich die Geburtsjahrgänge 1928 und 1929 aus Frankfurt. „Nur neugeborene Mädchen haben ihn bekommen“, sagt Haimi, wohl von der Jüdischen Gemeinde.
1929, das ist der Beginn schwerer Zeiten. Am „schwarzen Donnerstag“ kracht die New Yorker Börse zusammen, eine Wirtschaftskrise in Deutschland ist die Folge, die Arbeitslosigkeit steigt stark. Familie Cohn war schon vorher nicht wohlhabend. Akten des Hessischen Wirtschaftsarchivs lässt sich entnehmen, dass der Vater Richard seit 1919 eine Buchhandlung mit Antiquariat in der Bornheimer Landstraße betreibt. Das ist, gerade während der Inflationszeiten zu Beginn der 1920er Jahre, eine häufig genutzte Möglichkeit, um sich selbstständig zu machen, denn viele Menschen müssen ihre alten Bücher verkaufen, während andererseits ein hoher Lesebedarf besteht. Doch Cohns Buchladen geht es nicht mehr gut. Die an die Stadt abgeführten Steuern dokumentieren den Niedergang ab 1926. Zuletzt, im Jahr 1931, führt Richard Cohn nur 95,38 Reichsmark Jahressteuern an die Stadt ab.
Mehr als 55.000 Arbeitssuchende verzeichnet Frankfurt in diesem Jahr, im ganzen Reich sind es über 5,5 Millionen. Wer kauft da noch Bücher? Im selben Jahr muss Richard Cohn sein Geschäft zusperren. „Zahlungsunfähigkeit“, vermerkt eine Karteikarte der Industrie- und Handelskammer. Das Konkursverfahren wird drei Jahre später mangels Masse eingestellt.
Wer waren Karolinas Eltern? Richard Cohn, 1884 in Darmstadt geboren, wächst in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater Julius ist Hausierer, die Mutter Carolina Arbeiterin. Richard hat zwölf Schwestern und Brüder, davon fünf aus früheren Ehen des Vaters und der Mutter. Achtmal müssen die Cohns in Darmstadt innerhalb weniger Jahre umziehen.
Richard lernt Tapezierer und zieht nach Frankfurt um. Mehrfach wird er wegen Betrugs und Körperverletzung verurteilt, 1908 muss er einen Monat und zwölf Tage im Mainzer Gefängnis absitzen.
Der Staat zieht ihn im Ersten Weltkrieg als Soldat ein. Wo er zum Einsatz kommt und welchen Rang er bekleidet, bleibt ungewiss. Anhand der deutschen Verlustlisten lässt sich aber belegen, dass er am 17. April 1918 schwer verwundet wird. Ein Lungendurchschuss macht den Mann für den Rest seines Lebens zum Invaliden. Als Tapezierer kann er danach offenbar nicht mehr arbeiten.
Wo und wie Richard seine spätere Frau Else kennengelernt hat, wissen wir nicht. Beim Institut für Stadtgeschichte Frankfurt weiß man, dass sie am 8. August 1928 in Frankfurt geheiratet haben, elf Monate vor Karolinas Geburt. Else, geborene Eisemann, kommt aus Bad Orb im Taunus. Elses Vater Salomon arbeitet dort als Händler und Dienstmann. Else wird als Zweitälteste von fünf Geschwistern 1895 geboren.
Nach der Pleite seines Buchladens ist Karolinas Vater Richard zu Beginn der 1930er Jahre auf eine dürftige Kriegsinvalidenrente angewiesen, um seine Familie durchzubringen. Mehrfach muss die Familie umziehen, bis sie 1935 in der Thomasiusstraße 10, 1. Stock rechts, im Frankfurter Ostend unterkommt.
Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 wird seine Invalidenrente offenbar gestrichen. Richard Cohn untervermietet zeitweise ein Zimmer der Wohnung. Er erhält Unterstützung von der jüdischen Wohlfahrtspflege. Ab dem 1. September 1940 sind es 103 Mark und 20 Pfennige im Monat, umgerechnet etwa 300 Euro.
Diese Informationen finden sich in Dokumenten des Hessischen Hauptstaatsarchivs, das die Akten des Oberfinanzpräsidenten verwahrt. Dessen Beamte registrieren den Besitz aller Juden, um ihn später zu rauben. Doch bei den Cohns ist nichts zu holen: Sie besäßen „weder Vermögen noch Grundbesitz“, geben Karolinas Eltern im Oktober 1940 an. Die vierköpfige Familie lebt von monatlich 120 Reichsmark. Die Miete beträgt 60 Mark. Der Vater, inzwischen 56, ist krank und in Behandlung bei einem jüdischen „Krankenbehandler“, wie jüdische Ärzte im NS-Jargon diskriminierend genannt werden.
Die Cohns müssen bleiben, zur Flucht fehlt das Geld
Viele Frankfurter Juden sind inzwischen vor den Drangsalen des Naziregimes ins Ausland geflüchtet. Doch dazu benötigt man nicht nur ein Visum, einen Reisepass, steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Devisenerklärungen und eine Beurlaubung von der Wehrpflicht, der Juden ansonsten längst nicht mehr „würdig“ sind. Zuallererst braucht es Geld für Bahnfahrkarten, Schiffsbilletts und Vermögensnachweise zur Erlangung einer Einreisegenehmigung im Fluchtland. Die Cohns haben kein Geld.
Sie müssen bleiben, müssen die Pogromnacht im November 1938 miterleben, in der die Frankfurter Synagogen niederbrennen.
Karolina wird zu Hause „Karola“ gerufen, das gehe aus ihrer Geburtsurkunde hervor, berichtet die Historikerin Monica Kingreen, die auf die Geschichte der hessischen Juden spezialisiert ist. Seit dem August 1938 muss das Mädchen den Zwangsvornamen Sara tragen. Von September 1941 an wird sie gezwungen, mit einem gelben Stern an der Brust herumzulaufen, der sie in der Öffentlichkeit als ein verfemtes jüdisches Kind kennzeichnet. Sie darf Frankfurt nicht mehr verlassen. Sie darf nicht im Park spielen. Sie erhält weniger und minderwertige Lebensmittel als „arische“ Kinder. Seit November 1938 ist ihr der Besuch einer öffentlichen Schule verboten. Doch ob sie zuvor noch auf eine solche gegangen ist? Nachfragen bei öffentlichen Grundschulen in der Umgebung des Wohnorts der Familie Cohn bleiben ergebnislos.
Welche jüdische Schule aber hat Karolina besucht, das Philanthropin der Jüdischen Gemeinde oder die Jüdische Volksschule der orthodoxen Israelitischen Religionsgemeinschaft? Lassen sich vielleicht einstige Mitschüler finden, die sich an Karolina erinnern?
Die Mitgliedskarteien beider jüdischen Gemeinden sind von den Nazis vernichtet worden. Aber Karolina Cohn und Anne Frank trugen den gleichen Talisman, ausgegeben von einer der beiden Gemeinden. Anne Franks Großvater Michael war Mitglied der mehrheitlich liberalen Hauptgemeinde, in späteren Jahren war die Familie der Gemeinde zumindest verbunden.
Das heißt: Auch Familie Cohn gehört wohl der Hauptgemeinde an. Also geht Karolina spätestens seit November 1938 auf das Philantropin. Weitere Recherchen aber sind ergebnislos. Die Schülerverzeichnisse sind von den Nazis weitgehend vernichtet worden.
Und so erfahren wir nicht, was für ein Kind Karolina war. War sie lebhaft oder eher zurückgezogen? Ein Widerspruchsgeist oder angepasst? Immer gesund oder leicht kränkelnd? Was war ihr liebstes Spielzeug? Hatte sie lange blonde Haare oder kurze dunkle? Es gelingt auch nicht, ein Foto von ihr zu finden. Niemand scheint mehr da, der von Karolina berichten könnte. Auch Jad Vaschem hat bisher keinen Überlebenden gefunden, der sich an sie erinnern kann.
Einige von Karolinas Tanten und Onkel väterlicherseits sind schon vor der NS-Zeit nach Amerika ausgewandert. Die anderen Verwandten, Eltern, Schwester, Onkel, Tanten, Kusinen wurden fast ausnahmslos Opfer der Schoah. Onkel Markus Cohn starb 1939 im KZ Sachsenhausen, Sigmund Cohn 1943 in einem Lager in Frankreich. Max Eisemann wurde 1942 im KZ Majdanek ermordet. Onkel Simon und seine Frau Amalie 1941 in Kaunas erschossen. Onkel Michael ging nach den Torturen im KZ Dachau 1939 freiwillig in den Tod. Sein Sohn Ralph konnte nach Palästina flüchten. Er war einige Jahre älter als Karolina, er könnte sie gekannt haben. Doch Ralph Eisemann ist vor einigen Jahren in New York verstorben.
Geblieben ist nur Karolinas Leidensgeschichte.
Am 8. November 1941, dem neunten Geburtstag von Karolinas Schwester Gitta, wird die Familie Cohn von den NS-Behörden über ihre bevorstehende „Abwanderung“ – ein Tarnbegriff für die Deportationen – informiert. Sie erfahren nichts über das Ziel der Reise. Ein anderer Verschleppter, der damals 13-jährige Berthold Adler, erinnert sich: „Am Tag des Transportes kam ein Offizieller in unsere Wohnung und überwachte unser Weggehen. Am Nachmittag gingen wir zu Fuß zur Markthalle, wo unser neues Leben begann.“
Die Gestapo hat den Ostflügel des Kellers der großen Frankfurter Markthalle zum Sammelpunkt bestimmt. Hier werden Karolina und ihre Familie über mehrere Kontrollstellen geschleust. Der Leiter des Judenreferats der Frankfurter Gestapo, Heinrich Baab, hat dazu nach dem Krieg eine sorgfältige Zeichnung angefertigt. Wir erkennen darauf die verschiedenen Stationen: die Überprüfung der Deportationsliste, die Gepäckdurchsuchung und Leibesvisitation, die Abgabe der „Vermögenserklärung“, die Stempelung der Kennkarte mit „evakuiert“. Am Ende steht ein Aufenthaltsraum „bis zur Verladung“, wie es auf der Skizze heißt.
Vermutlich am Morgen des 12. November 1941 verlässt der Zug mit der Nummer Da53 den Frankfurter Ostbahnhof. Zum Einsatz kommen ältere Personenwagen 3. Klasse. Die Reise geht über Berlin, Warschau, Białystok, Wołkowysk, Baranowitschi nach Minsk. Im Bericht eines Überlebenden heißt es: „Die Fahrt dauerte sechs Tage. Wir hatten Lebensmittel dabei, aber kein Wasser, viele Leute starben. Wir haben, als es regnete, die Finger rausgehalten, und die abgeleckt, um Flüssigkeit zu bekommen. Vor Durst starben Menschen. Viele schrieen ‚wir brauchen Wasser‘, manchmal bekamen wir etwas bei einem Halt.“
Nach den ursprünglichen Plänen sollten 18 Züge aus Deutschland in die besetzte Hauptstadt Weißrusslands gehen, tatsächlich kommen nur sieben mit 6.959 jüdischen Menschen an. Die anderen Juden werden stattdessen nach Riga in Lettland verschleppt. Im jüdischen Ghetto von Minsk haben die Nazis für die Ankunft vorgesorgt. Auf Befehl der Einsatzgruppe A erschießen SS-Sicherheitspolizei und Hilfspolizei zwischen dem 7. und 11. November 1941 6.624 einheimische Juden. Ein Mann wird dabei extra zum Zählen der Opfer abgestellt. Am 20. November werden weitere 5.000 Menschen ermordet. So will man Platz für die deutschen Juden schaffen, die in bestimmten Straßen der Ghettos konzentriert werden.
Ein weiterer Überlebender des Frankfurter Transports berichtet nach dem Krieg anonym über die Ankunft in Minsk: „Dort mussten wir 3 Tage in einer ehemaligen Schule, auf Steinplatten, ohne Verpflegung, ohne Closetts und Waschgelegenheit zubringen. Wir kamen in zerfallene Holzhäuser, in 8–10 qm. große Zimmer, in die je 12 Personen beiderlei Geschlechts mit Kindern eingepfercht wurden, ohne Decken, ohne Matratze, ohne Kopfpolster, doch mit ungeheuren Mengen Wanzen, Mäusen und Ratten.“ Karolina kommt wie alle Frankfurter Juden in das „Sonderghetto I“.
Ende 1941 gibt es noch keine Vernichtungslager. Die deutschen Juden in Minsk sollen nicht sofort ermordet werden, sondern zunächst Zwangsarbeit leisten. Sie sind unter den Nazis beliebter als die weißrussischen Juden, weil sie alle Befehle sofort verstehen können. „Die Arbeitskommandos wurden von Wehrmachtssoldaten um 6 Uhr früh abgeholt und zwischen 16 und 18 Uhr zurückgebracht“, so der anonyme Frankfurter Zeuge. „Tagesverpflegung: 1 Stück Brot ca. 120 gr., wenig minderwertige Wassersuppe, kein Frühkaffee und kein Nachtessen. Wer irgend etwas von Wertsachen bei sich hatte, wie Trauringe, Füllhalter etc. vertauschte es an die Russen gegen Lebensmittel.“
Es ist möglich, dass Karolina hier ihren Glücksanhänger gegen Brot eintauschen muss. Immerhin ist er aus Silber gefertigt. Vielleicht ist sie schon im ersten Winter in Minsk gestorben, so wie etwa 100 Frankfurter Juden, die der Unterernährung, Krankheiten und Erfrierungen nicht standhalten können.
Vielleicht hat Karolina weiter gelebt, Zwangsarbeit geleistet und ihr Amulett getragen.
1942 kommen Gaswagen ins Ghetto. Sie sehen wie Möbelwagen aus. Mit den Abgasen der Motoren werden die Kranken und „Arbeitsunfähigen“, die man in die Laderäume gepfercht hat, ermordet. Im Juli werden etwa 9.000 Menschen aus dem Ghetto erschossen, darunter alle Bewohner des „Sonderghettos II“, nicht aber die Frankfurter Juden. Danach geht die Zwangsarbeit weiter, in einzelnen „Aktionen“ werden immer wieder Menschen umgebracht. Die jüdischen Insassen von mindestens 18 Transporten aus Deutschland, die 1942 in Minsk eintreffen, werden bis auf wenige Ausnahmen sofort nach ihrer Ankunft erschossen oder erstickt.
Im September 1943 wird das jüdische Ghetto von Minsk aufgelöst. Wieder werden viele Bewohner getötet. Einige kommen in andere Lager, auch im besetzten Polen. Mindestens zwei, vermutlich drei Züge verlassen um den 18. September Minsk. Ihr Ziel ist das Vernichtungslager Sobibór. Ein Zeuge gibt 1961 an, in seinem Zug hätten sich etwa 2.000 Menschen befunden.
Zwei weitere Transporte gehen wohl zur selben Zeit von Minsk in das Zwangsarbeitslager Trawniki. Möglicherweise ist ein Teil dieser Menschen kurz darauf weiter nach Sobibór gebracht worden. Kaum einer der Insassen dieser Deportationszüge ist namentlich bekannt, denn die Nazis haben sich nur bei Transporten aus Westeuropa die Mühe gemacht, ihre Opfer auch namentlich zu registrieren.
Thomas Blatt hat Sobibór überlebt, als einer von 53 Juden. Die SS-Männer wählen den damals 15-Jährigen als Zwangsarbeiter aus. Er hat dort die Aufgabe, Fotos und Dokumente der Ermordeten, die in ihrem Gepäck gefunden werden, zu verbrennen. „Sobibór war wie eine Fabrik“, sagt Blatt 2009 gegenüber dem Autor, wenige Tage bevor er als Zeuge gegen John Demjanjuk in München auftritt. Demjanjuk hatte als ukrainischer „Hilfswilliger“ in dem Lager gearbeitet und wurde später zu fünf Jahren Haft verurteilt. Blatt ist ein Teilnehmer des Aufstands von Sobibór gewesen, der im Oktober 1943 dazu geführt hat, dass die Nazis das Vernichtungslager aufgaben.
Thomas Blatt, Überlebender
Bis dahin steht in Sobibór ein Achtzylinder-Benzinmotor, dessen Abgase in sechs Kammern von der Größe von vier mal vier Metern geleitet werden. In den Kammern sind Duschköpfe installiert. Den vielen holländischen Juden, berichtet der 2015 verstorbene Blatt, habe man vorgegaukelt, sie gingen zur Körperreinigung. „Sie hatten keine Ahnung, wo sie da hingekommen waren. Ich bin mir sicher, dass sie, als sie bemerkten, dass nicht Wasser, sondern Gas aus den Duschköpfen austrat, glaubten, es handele sich um einen technischen Defekt. Sie starben, ohne zu wissen, dass sie ermordet wurden.“
Bei den Insassen der Züge aus Osteuropa sparen sich die ukrainischen Hilfswilligen und die SS die Camouflage. Sie werden unter Gebrüll und mit Peitschenhieben über den drei bis vier Meter breiten Weg von der Entkleidungsbaracke zu den Gaskammern getrieben.
Wir wissen nicht, ob Karolina Cohn diesen Weg gehen musste. Es ist aber möglich. Karolina wäre dann 14 Jahre alt geworden. Doch alles, was wir wirklich wissen, ist, dass Archäologen hier, 73 Jahre später, ihren Glücksanhänger gefunden haben.
Ein Amulett und eine Menge Papier. Es sind Geschichten wie die von Karolina Cohn, die bleiben werden, auch wenn die letzten Überlebenden verstorben sind. Yoram Haimi wird nach dem Winter aus Israel nach Sobibór zurückkehren, dann, wenn der Frost aus dem Boden gewichen ist. Und wird weiter in der Geschichte der Schoah graben.
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