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Verlorenes Album von Neil YoungNicht mehr lost, aber ist es great?

„Chrome Dreams“, ein „verlorenes“ Album von Neil Young, wurde nun veröffentlicht. Musikliebhaber finden darauf schöne Versionen mancher Hits.

Neil Young 1971, als sein Album „Chrome Dreams“ noch in der Zukunft lag Foto: Joel Bernstein

Es gibt verschiedene Legenden, die erklären, warum das Album „Chrome Dreams“ damals, Anfang 1977, als es fertiggestellt war und sich sogar schon bis zur Testpressung verpuppt hatte, dann doch nicht erschien. Eine geht so: Neil Young lud eines Abends seine Musikerkollegin Carole King ein, um es ihr vorzuspielen. King hörte zu und sagte schließlich, aber Neil, das ist doch kein Album, das bist doch größtenteils nur du, wie du Lieder zur Gitarre singst.

Eigentlich war das ja gerade sein Geschäft, Lieder zur Gitarre zu singen, das hätte Carole King wissen können. Vielleicht gab es dem kanadischen Rockstar dennoch zu denken. King veröffentlichte zur selben Zeit aufwändige, Yacht-Rock-nahe Produktionen mit schneidigen Bläsersätzen und Funky Drumming, die sie sich von dem mächtigen Lou Adler maßschneidern ließ, der wiederum die coolsten (und teuersten) LA-Session-Musiker*innen fürs Sweetening anheuerte.

Dennoch: Ein Yacht-Rock-Album von Neil Young? Vielleicht das Einzige, was er nie ausprobiert hat (schade!). Er blieb bei seiner Akustikgitarre und seiner bevorzugten Begleitband Crazy Horse, von der eine andere Kollegin, Joni Mitchell, nach einer gemeinsamen Session meinte, sie sei doch eigentlich nur eine rüpelhafte Barband und zu schlecht, um auf Tonträger der Ewigkeit überantwortet zu werden. Das tat Young dennoch und zwar noch oft und bis heute.

Beide, Joni Mitchell und Neil Young, sind in letzter Zeit groß im Archiv-Business unterwegs. Mitchell seit 2020 mit ihrer „Archives“-Serie, in der sie chronologisch Live-Aufnahmen, Demos und Outtakes der Öffentlichkeit zugänglich macht – Folge 3, die sich ihrer spannendsten Phase in den mittleren Siebzigern widmet, soll im Oktober kommen.

So viele Heilige Grale

Parallel dazu werden die Originalalben in größeren Boxen remastered und nach Schaffensperioden (beziehungsweise Label-Zuge­hö­rig­keit) geordnet zusammengefasst. Youngs Archiv ist ungleich größer und er ist mit dessen Auswertung im Grunde seit 1972 befasst, als er auf dem Doppelalbum „Journey Through the Past“ zum ersten Mal ältere Aufnahmen von sich veröffentlichte.

Das Album

Neil Young: „Chrome Dreams“ (Reprise/Warner).

Auch er bietet seine Originalalben mittlerweile chronologisch in der „Official Release Series“ remastered und zusammengefasst in Box-Sets an. Mit der im Juli veröffentlichten Folge 22–25 ist er mittlerweile in den frühen 1990ern angekommen. In der „Neil Young Archives Performance Series“ erschienen seit 2006 parallel dazu 17 Alben mit bislang unveröffentlichten Live-Aufnahmen in unterschiedlichen Besetzungen, aufgenommen zwischen 1968 und 2019.

Vor allem führt Neil Young aber seit einigen Jahren das beliebte Plattensammler*innen-Topos des „great lost albums“ dadurch ad absurdum, dass er ständig neue Vertreter dieser Spezies aus dem Ärmel seines Holzfällerhemds schüttelt. Die „Basement Tapes“ von Bob Dylan waren lange ein solches Album, noch länger „Smile“ von den Beach Boys oder „VU“ von Velvet Underground. Mittlerweile sind alle diese Heiligen Grale schon lange in diversen Spezial-Editionen dem Markt zugeführt worden.

Neil Young at his neilyoungest

Young hat diesem Tonträgergenre eine eigene Subserie seiner „Neil Young Archives“ gewidmet, die „Neil Young Archives Special Series“. Seit 2017 erblickten bislang vier große verlorene Young-Werke das Licht der Welt, „Chrome Dreams“ ist schon das fünfte. Seit 1992, da es zum ersten Mal als unlizenzierte CD in Italien veröffentlicht wurde, erregt das Album die Begehrlichkeit der Young-Fangemeinde und anderer Samm­le­r*in­nen und konnte es in den Folgejahren zum vielleicht begehrtesten „great lost album“ Youngs bringen.

Nun ist es nicht mehr „lost“. Aber ist es auch „great“? Dass bei der Beantwortung dieser Frage auch hundertprozentige Young-Fans nicht gleich in hysterisches Kopfnicken ausbrechen, hat wahrscheinlich vor allem damit zu tun, dass die Musik selbst für Young gewogene Hörer*innen, die sich nicht bereits eine Bootleg-Version des Albums besorgt haben, so frei von Überraschungen ist.

Dies ist Neil Young at his neilyoungest, mal akustisch und melancholisch, mal zornig mit Crazy Horse, mal derbe countryesk, mal urban. So weit nichts Neues. Unbekannte Songs gibt es auch nicht – alle sind irgendwann später auf unterschiedlichen Alben bereits veröffentlicht worden, teilweise allerdings in völlig anderen Versionen.

Es ist eine Art Best-of

Youngo­lo­g*in­nen freuen sich vor allem, von Young-Klassikern wie „Powderfinger“, „Like a Hurricane“, „Homegrown“ und „Sedan Delivery“ nun also die Originalversionen kennenzulernen, um daraus Entwicklungsgeschichten abzuleiten und Vergleiche anstellen zu können. Aber gibt es auch einen Nutzen für Uneingeweihte?

Auf Chrome Dreams bekommen Musikbegeisterte einige der berühmtesten Songs von Neil Young zu hören

Den gibt es tatsächlich: „Chrome Dreams“ ist das ideale Album für alle Musikbegeisterten, die zwischen 0 und 10 Young-Alben besitzen – also nur einen Bruchteil seines Œuvres. Sie erhalten prototypischen Neil Young und einige seiner berühmtesten Songs in sehr gelungenen Versionen, eine Art Best-of, all killer, no filler, des Seventies-Neil.

Die Diversität der Platte sorgt dafür, dass auch Hö­re­r*in­nen mit begrenzter Toleranz für nicht endenwollende Crazy-Horse-E-Gitarrenduelle beziehungsweise andererseits für traurig-wehmütige Mundharmonika-Balladen bei der Stange bleiben.

Vielleicht ist aber diese Diversität mehr noch als das Carole-King-Verdikt der Grund, weshalb es Young in letzter Minute vorzog, „Chrome Dreams“ ins Archiv zu verschieben und stattdessen wenige Monate später das unter Young-Fans allgemein nicht besonders hoch gehandelte, dabei eigentlich ziemlich schlüssige rustikale Country-Rock-Album „American Stars ’n’ Bars“ auf den Markt zu bringen.

Kein Album, ein Container

Denn „Chrome Dreams“ ist im eigentlichen Sinne kein Album, sondern ein Container für liegen gebliebene Einzelaufnahmen aus verschiedenen Ses­sions der Jahre 1974 bis 1976. Bei aller Qualität der zusammengetragenen Stücke gibt es weder musikalisch noch thematisch einen durchgehenden Erzählstrang. Den hat Young stattdessen bei „American Stars …“ mit seinem raubeinigen Gegenentwurf zum damals so populären sentimental-eskapistischen Westcoast-Country-Rock à la Eagles geliefert – unter Verwendung von vier „Chrome Dreams“-Aufnahmen.

Aus der Entfernung von fast fünf Jahrzehnten lässt sich heute aber auch für das „Chrome Dreams“-Original eine Erzählung ausmachen: Sie handelt von Neil Young, dem ewig suchenden, herumprobierenden, unzufriedenen Singer-Songwriter Mitte der 1970er Jahre.

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