Vergessene Geheimsprache Rotwelsch: Das Erbe
Als Harvard-Professor Martin Puchner zu der Sprache Rotwelsch recherchiert, stößt er auf Familiengeheimnisse und Abgründe der Geschichte.
Da ist dieser geheimnisvolle Raum, das Arbeitszimmer des Onkels, vollgestopft mit Büchern bis unter die Decke. An einer Wand hängen Geigen, Bratschen, eine Laute. Der Geruch von Zigarillos liegt in der Luft. Neben dem Schreibtisch steht eine Chaiselongue mit einer Vorrichtung, in die man ein aufgeschlagenes Buch hinter einer Glasscheibe einklemmen kann, um es im Liegen über dem Kopf zu lesen.
Er ist sechs, vielleicht sieben Jahre alt und mit seinen Eltern zu Besuch in der großen Altbauwohnung in München-Schwabing. Der Onkel, ein kräftiger Mann mit rötlichem Bart, zieht aus den Regalen immer wieder Nachschlagewerke, liest Wörter vor, die Deutsch klingen und doch keinen Sinn ergeben.
Es ist eine Geheimsprache, die kaum mehr jemand kennt, Rotwelsch, die Sprache der Landstreicher und Fahrenden. Und sein Onkel, Günter Puchner, hat beschlossen, sie in diesem Arbeitszimmer vor dem Aussterben zu retten.
Der Onkel hat ein Privatarchiv zusammengetragen, so gut wie jedes Buch, das Rotwelsch nur irgendwo erwähnt. Dazu Bände über die Geschichte des Jiddischen, aus dem Rotwelsch viele Wörter entlehnt hat. Und Bücher über Migration und Untergrunddialekte in Berlin, Wien oder Prag. Er hat Zettelkästen angelegt, mit Hunderten Vokabeln und Redewendungen, akkurat mit Schreibmaschine auf Karteikarten getippt, samt hochdeutscher Übersetzung.
Und er hat bekannte Stellen der Weltliteratur ins Rotwelsch übertragen: „Ich gable, Krönchen, bei der kauz’gen Lamp“, sagt Romeo da in Shakespeares Balkonszene zu Julia – „Ich schwöre, Fräulein, bei dem heil’gen Mond.“
„Mit Wörtern rumspielen“
Wenn Martin Puchner heute, mehr als vierzig Jahre später, über die Erinnerungen an seinen Onkel spricht, klingt die Begeisterung des Kindes noch durch. „Das hörte sich alles sehr witzig an. Man konnte mit diesen Wörtern rumspielen, und dass es eine Geheimsprache war, machte es spannend.“ Er freute sich, wenn er Freunden erklären konnte, dass sie Rotwelsch-Wörter verwandten, die ins Deutsche gewandert waren. „Moos“ für Geld, „Bulle“ für Polizist.
Er lernte auch Geheimzeichen auswendig, Zinken genannt, verschlüsselte Navigationshilfen für das Leben auf der Straße. Bettler, Hausierer und Fahrende hinterließen sie an Zäunen oder Hausfassaden, um einander mitzuteilen, wo ein bissiger Hund wachte, wo es sich lohnen könnte, um Essen zu bitten. Der Onkel zeichnete die Zinken mit Bleistift auf Papier und erklärte ihre Bedeutung.
Anfang der 80er Jahre stirbt der Onkel, ganz plötzlich mit Mitte vierzig an einem Hirnschlag, es ist ein Schock für die Familie. Martin Puchner ist da zwölf. Das geheimnisvolle Arbeitszimmer und die seltsamen Wörter verschwinden aus seinem Leben.
Erst viele Jahre später wird er das Erbe des Onkels antreten. Er übernimmt nicht nur die Manuskripte, Zettelkästen und selbst erstellten Wörterbücher, sondern macht sich auch auf die Suche nach der verschwundenen Sprache. Diese Suche wird ihn tief hinein in die eigene Familiengeschichte und Abgründe deutscher Geistesgeschichte führen.
Von Nürnberg nach Harvard
Es ist ein kühler, grauer Tag Anfang Mai. Martin Puchner sitzt an einem dunklen Holztisch in der Bibliothek der American Academy in Berlin. Aus den Fenstern blickt man auf den Wannsee, böiger Wind treibt weiße Segelboote vor sich her. Martin Puchner, fünfzig Jahre alt, ist heute Professor für Literatur in Harvard, er hat gerade ein Freisemester. Mit einem Stipendium der American Academy ist er in Berlin, um an einem Buch über seine Rotwelsch-Recherchen zu schreiben.
An dem großen Tisch wirkt er sehr schmal, dunkles Hemd, Brille mit grauem Gestell. Beim Reden ziehen seine Hände Linien in die Luft, seine Sätze beendet er oft mit einem nachgeschobenen „Genau“.
Nach den Spielereien der Kindheit habe er Rotwelsch fast vergessen, erzählt Puchner. „In der Pubertät ist man ja mit anderem beschäftigt.“ Er wächst in einem Reihenhaus in Nürnberg auf, die Mutter Grundschullehrerin, der Vater – der Bruder des Onkels – arbeitet als Architekt. Nach dem Abitur beginnt er Sprachen und Literatur zu studieren, erst in Konstanz, dann in Bologna, schließlich mit einem Stipendium in Kalifornien.
Er interessiert sich für Sprachphilosophie, das Spätwerk von Ludwig Wittgenstein fasziniert ihn, vor allem dessen Satz: „Sprache ist eine Lebensform.“ Er will in den USA bleiben, bewirbt sich für verschiedene Doktorandenprogramme und bekommt einen Platz in Harvard.
Ein Bibliotheksfund mit Folgen
Es ist 1995, als er an einem Abend in der Uni-Bibliothek eine irritierende Entdeckung macht. Die Bibliothek von Harvard hat einen legendären Ruf, sie ist das größte Unibibliothekssystem der Welt. Allein im Hauptgebäude, der Widener Library, stehen mehr als drei Millionen Bücher, verteilt auf 92 Regalkilometer in zehn Etagen. Ein Labyrinth, das man am besten nur mit einem Kompass, einem Sandwich und einer Signalpfeife betrete, witzelte eine Historikerin einmal.
An diesem Abend ist es spät geworden, erinnert sich Martin Puchner. Er kann sich nicht mehr auf den Text konzentrieren, der vor ihm liegt. Er denkt über die riesigen Bestände nach, auf die hier alle so stolz sind. Er beschließt, die Bibliothek zu testen. Sein Großvater war Archivar und Historiker in München, promovierte 1932 mit einer Arbeit zur Herkunft der Namen oberbayerischer Klöster – was würde Widener wohl von ihm haben?
Im Katalog findet er tatsächlich die Doktorarbeit von Karl Puchner, dazu einige Aufsätze zur Namensforschung, untergebracht in einem unterirdischen Raum, Pusey 3, in dem Quellen zur Kirchengeschichte archiviert werden. Er fährt in den Keller, läuft durch einen gekachelten Gang, steigt in einen weiteren Aufzug, fährt noch einmal drei Stockwerke nach unten. Hier, am wohl tiefsten Punkt der Bibliothek, lagern die Texte seines Großvaters in Rollregalen.
Er blättert durch die Dissertation, liest einige Seiten an – ziemlich dröges Zeug, selbst für jemanden, der es gewohnt ist, sperrige Texte zu lesen. In einer Zeitschrift des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde findet er einen Artikel von 1934, das Papier vergilbt, die Schrift in Fraktur: „Familiennamen als Rassemerkmale“.
„Verjudung“ und „Tarnnamen“
Als er zu lesen beginnt, erschrickt er. Sein Großvater beklagt in dem Text die „Verjudung unseres gesamten öffentlichen und kultürlichen Lebens“. Viele Juden hätten „Tarnnamen“ angenommen, die deutsch klängen oder ursprünglich deutsch gewesen seien. Um die „fremdrassige Gruppe“ von den „Deutschstämmigen“ nun wieder eindeutig zu trennen, brauche es Experten – die Namensforscher.
Der Aufsatz fordert, dass eine „Judenkartei“ angelegt werden müsste, um alle Juden und ihre Namen zu erfassen. Außerdem sollte es Juden verboten werden, ihren Namen zu ändern.
Karl Puchner skizziert hier 1934 für sein Fachgebiet ein Programm, das Schritte des Vernichtungswerks der Nazis vorwegnimmt. Vier Jahre später wird ein Gesetz erlassen, das Juden, deren Vornamen nicht jüdisch genug klingen, dazu zwingt, Israel oder Sara als Vornamen anzunehmen, um sie identifizieren zu können.
Der Abend in der Bibliothek verstört Martin Puchner. Sein Großvater, der in seinen Erinnerungen in einem großen Sessel sitzt und, ganz altersschwacher Patriarch, mit dem Gehstock die Großmutter herumdirigiert, der gestorben ist, als er noch ein Kind war – dieser Mann war nicht einfach Mitläufer, sondern überzeugter Nazi? Und noch etwas trifft ihn. In dem Text wird auch gegen Rotwelsch gehetzt, die große Liebe seines Onkels, dem Sohn des Großvaters.
Wissen, das die Vergangenheit verändert
Das Judentum sei „engstens mit dem Gaunertum verbunden“, weshalb Rotwelsch als Gaunersprache hebräische Wörter nutze, schreibt der Großvater. Er bedauert, dass Ausdrücke aus dem Rotwelsch ins Deutsche gewandert sind. „Leider hat sogar unsere Umgangssprache manche Wörter dieser trüben Quelle entnommen.“
Der nationalsozialistische Namensforscher verachtet alles, was sich mischt. Wie „Rassen“ sollen in seinem Weltbild auch Sprachen möglichst rein und klar getrennt bleiben. Rotwelsch, das sich aus verschiedenen Sprachen bedient, passt da genau ins Feindbild.
Es gibt Wissen, das den Blick auf die Vergangenheit für immer verändert. Nach diesem Bibliotheksfund ist sein Großvater für ihn nie mehr nur der Mann im Lehnsessel, erzählt Martin Puchner. Und auch Rotwelsch hat seine Leichtigkeit verloren. Da ist noch die Erinnerung an das Spielerische, aber es stellen sich jetzt auch Fragen.
Kannte sein Onkel die Vergangenheit seines Vaters? Hat er sich deshalb so für die verschwundene Sprache engagiert?
In den 60er Jahren hatte Günter Puchner begonnen, sich mit Rotwelsch zu beschäftigen. Was zuerst zum Geist von 68 zu passen schien, das Aufmüpfige einer Gaunersprache, nahm nach und nach einen immer größeren Teil in seinem Leben ein. Er hatte Musik studiert, als Komponist von Stücken Neuer Musik erste Erfolge gefeiert. Das gab er auf, um sich irgendwann ganz der Sprache zu widmen. War es der Versuch einer Wiedergutmachung?
Ein Besuch des Vaters
Kurz nach dem Abend in der Bibliothek besucht Martin Puchners Vater ihn in Harvard. Sie gehen in einen irischen Pub, rufen gegen den Lärm des vollen Studentenlokals an, sprechen über den Großvater. Er habe von dem Aufsatz nichts gewusst, sagt der Vater, er erinnert sich aber an ein Ereignis in den 60ern.
In einer Dunkelkammer vergrößert er damals alte Familienfotos, er will einen Fotokalender machen. Auf einem Bild von 1937 ist Karl Puchner mit einem Anstecker am Revers zu sehen. Als der stark vergrößerte Abzug langsam sichtbar wird, erkennt er: Darauf ist ein Hakenkreuz. Er erzählt es seinem Bruder, zusammen konfrontieren sie ihren Vater, es gibt Streit. Karl Puchner redet sich heraus, den Anstecker hätten damals alle getragen.
In vielen deutschen Familien werden zu dieser Zeit Fragen nach der Nazivergangenheit der Eltern gestellt. Aber danach passiert auch bei den Puchners das, was in den Nachkriegsjahrzehnten so oft passiert: Es wird irgendwann nicht mehr darüber geredet, die Episode gerät im Familiengedächtnis wieder in Vergessenheit.
Und Rotwelsch? Dass sich der Großvater und der Onkel jemals darüber unterhielten, sich gar stritten – daran kann sich der Vater nicht erinnern.
„Nimm das Zeug“
Das Gespräch im Pub ist das letzte Mal, dass Martin Puchner mit seinem Vater über die Familie sprechen kann. Einige Monate nach dem Besuch in Harvard hat sein Vater einen Segelunfall. Auf einem bayerischen See kentert sein Boot in einem Sturm. Er trägt eine Rettungsweste, ist aber so in die Leinen verheddert, dass sie ihn unter Wasser halten. Als der Rettungshubschrauber eintrifft, ist es zu spät.
Die Zeit danach beschreibt Martin Puchner heute als „Nebel“, er kann sich nicht mehr genau erinnern, wie er die Tage nach der Beerdigung, die Wochen zu Hause in Nürnberg verbringt. Er geht öfter zum Grab, spricht dort mit dem toten Vater und kommt irgendwann auch wieder auf Rotwelsch. Der Großvater ist tot, genauso der Onkel, nun auch der Vater. Wen könnte er dazu noch befragen?
Er besucht seine Tante, die Witwe seines Onkels, in der Schwabinger Altbauwohnung. Sie spricht, so beschreibt Martin Puchner es heute aus der Erinnerung, nur ungern über Rotwelsch. Für sie hat die Obsession ihres Mannes seine Karriere und die gemeinsame Ehe zerstört. Viele Abende hatte sie mit der Schreibmaschine Wörterbücher erstellt und Vokabeln auf Karteikarten getippt, die ihr Mann ihr diktierte.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Nimm das ganze Zeug mit, ich will’s nicht mehr“, sagt sie zu ihrem Neffen. Es sind sieben Umzugskisten mit den Aufzeichnungen des Onkels, darin Zettelkästen, Kladden, Manuskripte, Briefwechsel, Gedichte in Rotwelsch und selbst verfasste Wörterbücher. Die große Bibliothek mit Hunderten Büchern zum Thema bleibt in der Schwabinger Altbauwohnung.
„Für mich war das ein Stück Trauerarbeit“, sagt Martin Puchner. „Ich fühlte mich so auch meinem Vater näher, wenn ich die Aufzeichnungen meines Onkels anschaute.“ Er verschifft die Kisten nach Massachusetts, nimmt sie bei jedem Umzug mit, stellt sie immer wieder auf den Dachboden. „15-mal habe ich sie sicher umgezogen.“
Die Geschichte der Geheimsprache
Als Literaturwissenschaftler ist er es gewohnt, viel Zeit in Archiven zu verbringen. Er beschäftigt sich zunächst mit Sprachphilosophie und Theater, wird später Herausgeber der renommierten „Norton Anthologie der Weltliteratur“ und forscht dazu, wie mündliche Erzählungen erstmals niedergeschrieben wurden, wie Literatur ursprünglich entstand. Auf Deutsch ist gerade sein Buch „Die Macht der Schrift“ erschienen.
Es dauert aber Jahrzehnte, bis er sich daran wagt, sich Rotwelsch mit derselben Akribie zu widmen. Seit knapp fünf Jahren arbeitet er an einem Manuskript, in dem er die Geschichte der Geheimsprache und die seiner Familie rekonstruiert, die so eng damit verwoben ist. An der American Academy will er das Buch beenden, eine erste Fassung konnte die taz für diesen Text einsehen.
Im Spätmittelalter entsteht Rotwelsch als eine Mischung aus Deutsch, Jiddisch und Hebräisch. Streng genommen gilt es nicht als richtige Sprache, weil es keine eigene Grammatik besitzt, sondern die deutsche nutzt. Nur die Bedeutung der Wörter ist verdreht.
Eine erste Hochphase erlebt Rotwelsch nach dem Dreißigjährigen Krieg, als zahlreiche entlassene Söldner und heimatlos Gewordene herumziehen, zeitweise bis zu einem Viertel der Bevölkerung.
Erkennungszeichen eines bestimmten Milieus
Rotwelsch ist das Erkennungszeichen eines bestimmten Milieus – und eine rein gesprochene Sprache. Die wenigen schriftlichen Quellen, die existieren, stammen von erbitterten Rotwelsch-Gegnern. In den Kisten, die Martin Puchner von seinem Onkel übernimmt, finden sich Aufzeichnungen mehrerer Generationen von Polizisten, die versucht haben, die Sprache zu entschlüsseln.
Er ist skeptisch bei diesen Quellen, in die Dokumente sind alte Herrschaftsstrukturen eingeschrieben, Menschen ohne festen Wohnsitz gelten schnell als kriminell – und trotzdem sind diese Aufzeichnungen oft die einzige Möglichkeit, die Entwicklung der Sprache zu verfolgen.
Zu jenen, die Rotwelsch schon früh bekämpfen, zählt auch Martin Luther. 1528 gibt er ein „Buch der Vaganten“ neu heraus, das „Liber vagatorum“. Der ursprüngliche Autor ist unbekannt. Das Buch warnt vor Tricks und Täuschungen, die Bettler nutzen, um Almosen zu erschleichen.
Luther fügt dem „Liber vagatorum“ eine Liste mit Rotwelsch-Begriffen und ihre Übersetzung hinzu. Und er schreibt ein Vorwort. Darin heißt es: Rotwelsch komme „von den Juden“, was in Luthers Welt mit seinem manifesten Antisemitismus nichts Gutes bedeutet.
Auch wenn aus dem Jiddischen und Hebräischen viele Wörter entlehnt und mit einer neuen Bedeutung versehen wurden, waren die Rotwelsch-Sprecher, nach allem was man heute weiß, in der Mehrheit nicht jüdisch. Luther begründet hier eine antisemitisch aufgeladene Erzählung, auf die im Nationalsozialismus Karl Puchner und andere zurückgreifen.
Regionale Rotwelsch-Dialekte
Im 18. und 19. Jahrhundert benutzen nicht nur Landstreicher und Hausierer, sondern auch Mitglieder von Räuberbanden Rotwelsch, daher sein Ruf als Gaunersprache. Ende des 19. Jahrhunderts werden viele Rotwelsch-Sprecher sesshaft – teils freiwillig, teils von den Behörden dazu gezwungen. Das Rotwelsch-Vokabular vermischt sich mit regionalen Mundarten, es entstehen zahlreiche Rotwelsch-Dialekte.
Die Nazis verwandeln eine lebendige Sprache dann in eine sterbende, indem sie das Milieu zerstören, das sie spricht. Fahrende, Landstreicher, Kleinganoven – nach 1933 gelten diese Menschen als „Ballastexistenzen“ oder „Asoziale“, sie zählen zu den Ersten, die in Konzentrationslager gesperrt werden. Mit ihnen verschwindet ihre Art zu leben – und ihre Sprache.
„Der Versuch meines Onkels, mit dem Niederschreiben und der Übersetzung klassischer Literatur eine Sprache zu retten, ist auch ein Kunstprojekt, weil es diese Form der Fixiertheit beim Rotwelsch so nie gab“, sagt Martin Puchner. Er selbst könne Rotwelsch zwar teils lesen, die Bedeutung einzelner Wörter herleiten. „Aber ich kann kein Gespräch darin führen. Mit wem auch?“
Zu seinen Recherchen gehört für ihn aber nicht nur die Geschichte der Geheimsprache, sondern auch die seines Großvaters. So gründlich er sucht: Er findet keinen anderen Text des Großvaters, der Rotwelsch noch einmal erwähnt. Und auch keinen weiteren, der so antisemitisch durchtränkt ist. In einem Aufsatz aus den 1930er Jahren gibt es zwei, drei Absätze im selben Stil, dann nichts mehr.
Nach 1945 macht Karl Puchner Karriere, 1960 steigt er zum Direktor des bayerischen Staatsarchivs in München auf. Außerdem unterrichtet er Namensforschung am historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität.
Die Akte von Karl Puchner
Um sich seinem Großvater anzunähern, macht Martin Puchner das, was sein Beruf ist – er sichtet alte Dokumente und Texte. „Ins Bayerische Staatsarchiv bin ich 2016 einmal reinmarschiert und habe nachgefragt, was die zu meinem Großvater haben“, erzählt er.
Die Mitarbeiter sind zu ihm sehr freundlich. „Ihr Großvater war ja Direktor, natürlich haben wir da einiges.“ In einem Lesesaal wartet er eine Weile, dann fährt ein Mann einen Rolltisch vor, darauf Stapel von Papieren, Hunderte von Seiten, die Akte von Karl Puchner.
Darin finden sich Beurteilungen des jungen Archivars aus den 30er Jahren. Vorgesetzte loben ihn als fleißig, energisch, eine positive Erscheinung. Im selben Ordner liegt aber auch ein Formular, mit dem Karl Puchner mitteilt, dass er der NSDAP beigetreten ist, Mitgliedsnummer 267.450, Beitrittsjahr 1930. Drei Jahre vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.
Trotz seines bisherigen Wissens – der frühe Beitritt trifft Martin Puchner. Zuvor hatte er sich gefragt, ob der Großvater nur als Karrierist die Nazi-Ideologie übernommen hatte, ohne daran zu glauben. Nun bleibt eigentlich kein Zweifel, er muss ein überzeugter Nazi gewesen sein.
Seiner Karriere im Staatsarchiv hilft das politische Engagement, 1934 bekommt er direkt nach der Referendarzeit eine Stelle, noch zeitlich befristet. In den Begründungen für kleinere Beförderungen weisen Vorgesetzte lobend auf den frühen Parteieintritt hin.
Plötzlich nur noch Mitläufer
1939 wird Karl Puchner eingezogen, an der Westfront verwundet. Er übernimmt Archivaraufgaben in den besetzten Niederlanden. Über den Krieg erzählen die Papiere im Staatsarchiv wenig. Mehr über die Zeit danach: Sie zeigen, wie Karl Puchner härteren Strafen bei der Entnazifizierung entging. Er will jetzt nur noch Mitläufer gewesen sein.
In einer Erklärung vom Juli 1945 schreibt er, er sei der NSDAP erst 1933 „auf ausdrücklichen Wunsch meines Chefs“ beigetreten. Er habe zwar 1930 „einer Hitlerversammlung in München als junger Student“ beigewohnt, dort auch seine Adresse in eine Liste eingetragen, aber nicht die Mitgliedschaft beantragt.
Und die niedrige Mitgliedsnummer? Der Großvater schreibt: „Ich kann mir das nur so erklären, dass die Ortsgruppe der Partei 1930 meine Anschrift weitergab in dem Bestreben, möglichst viele Mitglieder aufweisen zu können.“ Er präsentiert auch einen Mitgliedsantrag von 1933. Was er verschweigt: Es war sein zweiter Aufnahmeantrag, seine bisherige Ortsgruppe hatte sich zu diesem Zeitpunkt aufgelöst.
Mit Beginn des Kalten Kriegs lässt das Interesse der Amerikaner an einer konsequenten Entnazifizierung in ihrer Besatzungszone spürbar nach. Davon profitiert auch Karl Puchner. Seine Vorgesetzten setzen sich für ihn ein. Im Mai 1948 wird er als „Mitläufer“ eingestuft und zur Zahlung von 600 Mark verurteilt. Er erhält seine alte Stelle zurück, bald darauf wird er verbeamtet.
Die Macht von Archiven
Während er in der Nazizeit für sein Fachgebiet eine herausgehobene Bedeutung beanspruchte, weil es so nützlich beim Aufspüren von „Tarnnamen“ sei, gibt er sich nun demütig. In seinen Arbeiten betont er fortan, dass es sich bei der Namensforschung lediglich um eine Hilfswissenschaft handle, dass es darum gehe, für andere Historiker die Quellen zu erschließen. Über Rotwelsch schreibt er nie mehr.
Was seinen Enkel auch irritiert, als er die Dokumente sichtet: Der Großvater war mehr als zehn Jahre lang Direktor dieses Staatsarchivs, er hätte leicht Unliebsames aus der eigenen Akte verschwinden lassen können. „Dafür war er aber wohl zu sehr Archivar“, sagt Martin Puchner. „Sämtliche Familienmitglieder hätten diese Akte einsehen können, aber man macht das vielleicht nur, wenn man wie ein Wissenschaftler denkt und arbeitet.“
Die Recherche in der eigenen Familie lässt Martin Puchner die Macht von Archiven spüren. Das, was er da erfährt, ändert seine Sicht auf die eigene Vergangenheit. Er erlebt aber auch die Grenzen der Akten und alten Texte. Manches lässt sich nicht beantworten.
So findet er keinen Beleg, dass die Rotwelsch-Besessenheit des Onkels eine direkte Reaktion auf die Vergangenheit des Großvaters war. Briefe des Onkels aus den 70ern, in denen er bei einem Verleger für ein Rotwelsch-Buch warb, belegen, dass er dies als Beitrag zur Nazi-Aufarbeitung verstand – aber hatte das etwas mit seinem Vater zu tun?
Worüber die Dokumente schweigen
Und noch eine Frage beschäftigt Martin Puchner: Wie dachte der Großvater nach 1945 über die eigene Vergangenheit? Blieb er ein überzeugter Nazi, ohne sich je wieder dazu zu äußern? Oder bereute er sein Handeln? Aus den Dokumenten lässt sich das nicht rekonstruieren.
Es gibt noch ein Familienmitglied, das mehr darüber wissen könnte, die einzige Tochter des Großvaters, die jüngere Schwester von Martin Puchners Onkel und Vater. Doch sie direkt darauf anzusprechen – davor schreckt Martin Puchner zurück, als er ihr bei einem Treffen gegenübersitzt.
Er hat selbst erfahren, was das Wissen um die Vergangenheit bewirken kann. Hat er das Recht, ihren Blick auf den eigenen Vater und alle Erinnerungen, die damit verbunden sind, so grundlegend zu verändern? Er sagt nichts.
Im Sommer kehrt Martin Puchner aus Berlin nach Harvard zurück. Er schickt eine E-Mail mit Fotos, auf denen man die Zettelkästen und Stapel mit Rotwelsch-Gedichten des Onkels sieht. Sie sind auf einem Tisch in seinem Arbeitszimmer verteilt. „Ich bin besonders erfreut, jetzt das gesamte Archiv wieder vor mir zu haben“, schreibt er dazu. Es klingt, als spreche er von Familienmitgliedern.
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