Vergabe von Kita-Plätzen: Deutsch lernen ist kein Grund
Neuer Antragsbogen für "dringlichen sozialen Bedarf" könnte Eltern abschrecken, fürchten Sozialarbeiter. Behörde sieht Missverständnis. Streit um Sprachförderung.
Eine neue „Fachanweisung Kindertagesbetreuung“ sorgt für Aufregung. Linke und Grüne kritisieren, dass „Sprachförderung“ bei Kindern mit nicht-deutscher Familiensprache nur dann Kriterium für einen Kita-Platz sein soll, wenn diese auch die Herkunftssprache schlecht beherrschen. Und Mitarbeiter der bezirklichen Kita-Abteilungen (KTB) befürchten, dass es künftig nicht mehr möglich sein wird, überforderte Familien unbürokratisch mit einem Kita-Gutschein zu unterstützen.
Es geht um die sogenannte „Prio 10“, nach der zurzeit rund 8.000 Kinder mit „dringlichem sozial bedingten oder pädagogischen Bedarf“ auch dann Anspruch auf einen Krippen- oder Ganztagsplatz haben, wenn nicht beide Eltern berufstätig sind. Diesen, so die Sorge, dürften künftig nur noch die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) und Kinderärzte begründen, die dafür einen abschreckend formulierten Antragsbogen verwenden müssten.
Das Papier, das der taz vorliegt, führt neben anderen Kriterien an erster Stelle die Kindeswohlgefährdung an. Gleich unter Punkt „a“ etwa können „Hinweise auf Vernachlässigung“, „fehlendes Fürsorgeverhalten“ oder „regelmäßig auftretende Gewaltanwendung“ angekreuzt werden.
In Hamburg hat seit August jedes Kind ab zwei Anspruch auf einen fünfstündigen Kita-Platz.
Kinder von Berufstätigen haben ab Geburt Betreuungsanspruch im Umfang der Eltern-Arbeitszeit.
Einen Platz nach "Prio 10" bekommen Kinder auch, wenn ihre Eltern sie nicht angemessen fördern und versorgen können.
Die Zahl der nach "Prio 10" versorgten Kinder ist seit 2004 von 4.721 auf 8.248 in 2012 gestiegen (Prognose).
Doch das sind schwere Fälle. Es gibt auch ganz andere Familien, die in einer besonderen Lebenslage die Entlastung durch eine Kita brauchen. Bisher können Kita-Leitungen oder andere Beratungsstellen den Eltern auf dem Weg zum Kita-Amt eine Einschätzung mitgeben, die den Bedarf plausibel und in auch für die Eltern annehmbaren Worten beschreibt. Würde dieser niedrigschwellige Zugang versperrt, so die Kritik von Sozialarbeitern, würden die Hilfen zur Erziehung (HzE) wieder teurer.
Laut Sozialbehörde gibt es hier ein Missverständnis. „Der Bedarf kann auch weiter von den sozialpädagogischen Fachkräften in den KTB-Abteilungen festgestellt werden“, stellt Sprecherin Nicole Serocka klar. Und diese könnten ihre Feststellungen auch weiterhin auf Berichte von Kitas oder anderen Dienststellen gründen. Bei dem Antragsbogen handle es sich um ein „internes Formular“. Serocka: „Es besteht kein Anlass zur Sorge, dass Familien sich abgeschreckt fühlen könnten.“ Allerdings bekommen Eltern den Bogen wohl in die Hand, wenn die Diagnose des Kinderarztes gefordert ist.
Es sei auch nicht Absicht, die Zahl der „Prio 10“ zu senken, sagt Serocka. Die Liste der Kriterien werde sogar um „erhebliche sprachliche Entwicklungsverzögerung“ erweitert, „gemäß SPD-Regierungsprogramm“. Auch hier liegt der Teufel im Detail: Kinder, die in ihrer Muttersprache keine Auffälligkeiten zeigen, fallen nicht unter diese Regelung, lautet die Fachanweisung.
Der Jugendpolitiker Mehmet Yildiz spricht von einer „Unverschämtheit“. Die SPD halte sich nicht an ihre Versprechen, die sie im Wahlkampf gegeben habe. „Hier wird der Anspruch minimiert.“ Es sei für Migrantenkinder sehr wichtig, einen Ganztagsplatz zu bekommen. „Die Erzieherinnen sagen, wenn die Kinder nur halbtags da sind, können sie ihnen nichts beibringen“.
Yildiz hatte im April einen Antrag in die Bürgerschaft eingereicht, in dem er Sprachförderung ohne diese Einschränkung als Kita-Platz-Kriterium forderte. „Im Familienausschuss hat der Staatsrat Jan Pörksen mir gesagt, das wird alles gemacht“, sagt er.
Auch die Grüne Kita-Politikerin Christiane Blömeke sieht in der Fachanweisung „neue Hürden“, die sich in der Schule als Bumerang erweisen könnten. „Wenn zu Hause kein Deutsch gesprochen wird, zählt jeder Monat und jede Stunde, die das Kind eher und länger in der Kita ist, um Deutsch als Zweitsprache zu erlernen.“ Die SPD sollte daher sich „selber beim Wort nehmen“.
Zudem sei die Fachanweisung verwirrend. Auch wenn die Behörde dies jetzt öffentlich einräume, fehle dort die klare Aussage, dass die Kitas weiterhin den dringenden sozialen oder pädagogischen Bedarf von Kindern ermitteln dürfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!