: Verfügbares Eigentum
■ „Verlorene Kindheit . Jungen als Opfer sexueller Gewalt“
Von frühester Kindheit an werden kleine Mädchen davor gewarnt, dem fremden Onkel mit der Schokolade in sein Versteck zu folgen. Was aber, wenn der Fremde plötzlich der eigene Vater, der Lehrer oder Sportsfreund ist; wenn er sie nicht lockt, sondern ihnen keine andere Wahl läßt; wenn er dem Kind suggeriert, was nun folge, sei von ihm selbst gewollt, sei „unser kleines Geheimnis“, und es durch seine Autorität zum Schweigen zwingt? Für diesen Fall erteilt niemand Verhaltensmaßregeln - das Tabu ist zu groß, die Konsequenzen zu gravierend, und so verschwindet das Thema in der Grauzone unbehaglichen Schweigens.
Nele Glöer und Irmgard Schmiedeskamp-Böhler haben ein Thema angeschnitten, das in noch viel höherem Maße der Verdrängung anheimfällt: den sexuellen Mißbrauch von Jungen - „keine Seltenheit, sondern totgeschwiegener Alltag im Leben vieler“. Drei Faktoren machen es den Jungen noch schwerer als den Mädchen, über die erlittene Gewalt zu berichten: das Stigma der Homosexualität, ihre geschlechtsspezifische Erziehung, die es noch immer erschwert, Demütigung und Hilflosigkeit auch nur zu benennen, und die gesellschaftliche Rollenzuschreibung, derzufolge Männer potentielle Täter, Frauen ihre Opfer sind.
Jungen als Opfer sprengen dieses Verhaltensmuster. Im Gegensatz zu den Mädchen fehlt ihnen sowohl das Identifikationsmodell, das das Reden überhaupt ermöglicht, als auch die Öffentlichkeit, die sie hört und ihre Schädigung wenigstens anerkennt. Erstmals erlebt sie der Leser als Gefangene des Kreislaufs von fehlender Hilfe und einer aus Scham, Angst, oft genug aber auch Verantwortungsgefühl für den Zusammenhalt der Familie geborenen Resignation. Um der Bestrafung beziehungsweise den sozialen und emotionalen Konsequenzen zu entgehen, fördern Täter und Umwelt ihr Schweigen mehr oder weniger bewußt.
Dieses Schweigen zu brechen, haben sich die Autorinnen zur Aufgabe gemacht und Gespräche mit Opfern geführt. Im Vor und Nachwort erläutern sie Entstehungsbedingungen und Folgen sexueller Gewalt gegenüber Jungen mit einer Sachlichkeit, der man ihre tiefe Betroffenheit anmerkt, ohne daß sie dem Leser erlaubten, sich stumm oder in moralischer Entrüstung zurückzulehnen.
Sexuelle Gewalt an Jungen ist kein schichtspezifisches Phänomen. Es steht nicht in ursächlichem Zusammenhang mit Alkohol, sexuellen Problemen oder unkontrollierbarer Triebhaftigkeit; Übergriffe werden vielmehr genau geplant und vorbereitet. Die Täter sind auch nicht homosexuell. Ihre Motive zielen auf die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse, und die Sexualität ist das Vehikel, um Macht, Wut oder Haß, aber auch Nähe und Intimität auszuleben. Das Kind ist verfügbares Eigentum oder Ersatz für die Partnerin, sei es, weil die Beziehung zu ihr als unbefriedigend oder als überfordernd empfunden wird.
Wiederholt bringen die Autorinnen Verständnis dafür auf, daß die Täter und ihre Mitwisser selbst Opfer sind. Ein Verständnis allerdings, das die Erwachsenen keinen Moment aus ihrer Verantwortung für den geschädigten Jungen entläßt, auf dessen Kosten sie Befriedigung suchen beziehungsweise Konflikte vermeiden. Unmißverständlich machen die Interviews deutlich, wie berechtigt es ist, von einer verlorenen Kindheit zu sprechen. Der Leser lernt Männer kennen, die noch als Erwachsene an dem Gefühl der Wertlosigkeit leiden, deren Geschlechtsrollenidentität unsicher ist, die vor jeder Form von Nähe zurückschrecken und nur aus der Distanz das Bild des selbstbewußten, aktiven Mannes aufrechterhalten können; Männer mit massiven Ängsten davor, zum Wiederholungstäter zu werden, oder die erst mit Hilfe langwieriger Therapien den Mut finden, das Erlittene auch nur zu erinnern.
Dieses Buch läßt einen nicht so schnell wieder los. Die Direktheit, mit der hier Mißhandlungen und die Intensität der sie begleitenden ambivalenten Gefühle thematisiert werden, ermöglicht dem Leser eine Identifikation mit den Opfern, die keine psychologisch durchgearbeitete Fallbeschreibung hervorzubringen vermag. Gleichzeitig müssen wir uns fragen, ob nicht auch wir selbst ein Leid übersehen, das tagtäglich in unserer Umgebung stattfindet. Es ist das Verdienst der Autorinnen, daß sie uns das Verdrängen ein Stück schwerer machen. Vorbehaltlos ergreifen sie Partei für die Jungen und sprechen, wo diese nicht reden konnten: „Ich habe immer nur gesagt, warum kann man gegen solche Leute nichts unternehmen. Als Kind hat man keine Möglichkeit.“
Katharina Kaspers
Nele Glöer, Irmgard Schmiedeskamp-Böhler: Verlorene Kindheit . Jungen als Opfer sexueller Gewalt. Weismann Verlag, 189 Seiten, 24 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen