: Verfassungsbruch?
■ Die Verfassung der Föderation ist alles andere als das Grundgesetz einer Demokratie
Boris Jelzin versuchte erst gar nicht, die Auflösung des Volksdeputiertenkongresses als verfassungskonform darzustellen. In seiner Fernsehansprache rechtfertigte der Präsident seinen Erlaß statt dessen mit der „Sicherheit Rußlands und seiner Völker“. Diese habe einen „höheren Wert als die formelle Beachtung widersprüchlicher Normen, die von der gesetzgeberischen Macht geschaffen wurden“. Verfassungsrechtler sind sich einig, daß der jüngste Erlaß Jelzins gegen Artikel 121-6 der Verfassung verstößt. Dieser untersagt dem Präsidenten die Auflösung gewählter Machtorgane. Verfassungswidrig handelte jedoch auch der Oberste Sowjet. Denn nur der Volksdeputiertenkongreß kann den Präsidenten – bei Verstoß gegen 121-6 – mit sofortiger Wirkung absetzen.
Andererseits trifft Jelzin mit seiner Formulierung „widersprüchliche Gesetzesnormen“ den Kern der Diskussion über die Verfassung der Russischen Föderation. Denn diese ist alles andere als ein in sich schlüssiges Grundgesetz eines demokratischen Staates. 1978, in den dunkelsten Jahren der Breschnew-Ära verfaßt, wurden an ihr seit 1989 rund 300 Veränderungen vorgenommen. Zu den größten Problemen führte dabei, daß der Kongreß der Volksdeputierten als höchstes Verfassungsorgan ständig versuchte, sich Machtbefugnisse von Exekutive und Jurisdiktion anzueignen. Entscheidend war eine Verfassungsänderung vom 9. Dezember 1992, die es dem Parlament erlaubt, alle Dekrete des Präsidenten aufzuheben, noch bevor das Verfassungsgericht zu deren Verfassungsmäßigkeit Stellung genommen hat. Immer wieder haben die Anhänger Jelzins den Abgeordneten daher vorgeworfen, daß sie aus Jelzin eine „englische Königin“ machen wollen. Die in Artikel 3 der Verfassung verankerte Gewaltenteilung wird zudem durch eine andere Bestimmung außer Kraft gesetzt: Nach Artikel 104 kann der Kongreß „jede beliebige Frage“ behandeln und entscheiden.
Die Diskussion über die Frage, ob ein Dekret des Präsidenten oder des Parlaments verfassungskonform war, ist zu einem der beliebtesten Instrumente im Moskauer Machtkampf geworden. Zur Entscheidung über Verfassungsfragen wurde allerdings bereits im Oktober 1991 ein Verfassungsgericht eingesetzt. Doch während dieses zunächst tatsächlich als Vermittlungsinstanz wirkte, hat sich seit Anfang 1993 vor allem der oberste Verfassungsrichter Waleri Sorkin auf die Seite der Jelzin- Gegner geschlagen. her
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