Verfallene Bauten in Berlin: Der Charme des Morbiden

Ein Unternehmen bietet spezielle Ruinen-Führungen an - legal, aber kostenpflichtig. Andere gehen lieber auf eigenes Risiko auf Ruinensafari.

Was in diesem Haus wohl mal drin war? Bild: xDanTheMan/Creative Commons BY 2.0

Durch die Büsche sind Teile eines Metallzauns zu erkennen. Ein Mann in dunkler Stoffjacke schiebt einen Ast zur Seite, ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Denn im Bauzaun klafft ein Loch, breit genug, um hindurchzuklettern. Ein kontrollierender Blick nach links, einer nach rechts – niemand in Sichtweite. Matthias P. nutzt den Augenblick: Hinter dem Zaun führt ein Holzsteg zum Gebäude, er sieht morsch aus. Vorsichtig wippt der Mann auf einem Brett auf und ab, ein leichtes Knarzen ertönt. Der Mann runzelt die Stirn: Hält der Steg sein Gewicht? Denn sonst würde er in die Tiefe stürzen.

Sein illegales Hobby treibt Matthias P. auch diesen Vormittag an. Seine Neugier, in versteckte Gelände einzudringen, ist größer als die Angst davor, erwischt zu werden. Mit seiner Leidenschaft ist der Medizinstudent nicht alleine. Mittlerweile interessieren sich zahlreiche Menschen für Grundstücke und Bauten, die seit längerer Zeit nicht mehr genutzt werden.

Der Grund dafür sind zwei Berliner Unternehmer, die es möglich gemacht haben, lange verlassene Orte zu besichtigen, ohne sich durch Zäune oder über Mauern schleichen zu müssen. Andreas Böttger und Thilo Wiebers haben 2010 die Agentur go2know gegründet. Mit Fototouren geben sie Schaulustigen und Fotografen in Berlin und Brandenburg die Möglichkeit, acht verschiedene Orte zu besichtigen, zu denen der Zutritt eigentlich verwehrt ist.

Offizieren auf der Spur

Das Haus der Offiziere in Wünsdorf ist ein Beispiel: Der Fußboden knarzt an diesen Nachmittag. Etwa 25 Besucher sind an diesem Tag zur Fototour angereist. Fünf Stunden dürfen sie durch die modrigen Räume streifen. Ein junger Mann mit Nickelbrille kniet vor einem Tierskelett und drückt fleißig auf den Auslöser. Die vertrocknete Haut blättert wie Putz von einer Wand. Feine Gliedmaßen und ein spitzes Ohr lassen erkennen, dass die Knochenteile vermutlich mal einer Katze gehörten. Daneben lehnt ein Hundeskelett an der Wand.

Böttger und Wiebers bieten ihre Touren seit mehreren Jahren an – offiziell und legal. Dafür mieten sie die Gebäude bei den Eigentümern an. Böttger, der früher 3-D-Computeranimationen erstellte, und Wiebers, einst DJ und Veranstaltungstechniker, machten damit ihr Hobby zum Beruf. Bereits in ihrer Schulzeit haben sie nächtelang zusammen im Labor Fotos entwickelt. Nach ihrem Schulabschluss hat sie das – wie sie es nennen – „Lost-Place-Feeling“ gepackt und mehr als 20 Jahre lang begleitet. „Man sieht da oft Relikte, die das Gebäude mal so lebendig gemacht haben“, sagt Böttger in breitem Berlinerisch. „Das war faszinierend.“

Nur der Hall der Schritte

Mit Relikten meint Böttger Stühle, Betten, Wandgemälde oder Schallplatten. So wie im alten Offiziershaus in Wünsdorf, das bis 1994 von russischen Soldaten genutzt wurde. Im Kinosaal des Gebäudes stehen heute noch die Sitzreihen mit rotem Stoff. Hinter der Bühne hängen Metallkonstruktionen von der Decke, an den Wänden rosten Seilzuganlagen vor sich hin. Ein Trampolin im Nebenraum ist voller Löcher. Ansonsten herrscht Stille. Das Einzige, was auf den Gängen zu hören ist, ist der Hall von Schritten und Stimmen der Besucher.

Andere Orte, zu deren Besichtigung Böttger und Wiebers einladen, sind die Infanterieschule in Wünsdorf, das ehemalige Tempelhofer Flughafengebäude und das Gefängnis in Köpenick. Eine Fototour kostet etwa 40 Euro. Auf Wunsch informiert ein Tourguide über die historischen Hintergründe. In ihrem Unternehmen beschäftigen Böttger und Wiebers mittlerweile sechs Führer und zudem mehrere Büromitarbeiter. Ihr Erfolgsrezept sei, dass sich die Besucher frei bewegen dürfen: „Die Leute sollen in Ruhe die Atmosphäre aufnehmen und spüren können“, betont Böttger.

Die Nachfrage sei in den letzten Jahren so sehr gewachsen, dass es schon Pläne gebe, das Angebot auf ganz Deutschland auszuweiten. Denn Wiebers und Böttger sind mit ihrem Angebot nahezu konkurrenzlos. Neben go2know gibt es zwar noch die Agentur „go4foto“, die in Berlin, Hamburg und Leipzig geführte Fototouren anbietet – allerdings zum doppelten Preis. go2know kalkuliere dagegen sehr knapp, sagt Wiebers. „Es soll für die Teilnehmer bezahlbar bleiben.“

Matthias P. hingegen zieht lieber auf eigene Faust los. Sein voller Name muss geheim bleiben, denn wenn er Berlins verlassene Orte erkundet, begeht er damit in aller Regel Hausfriedensbruch. Läuft er nicht wie an diesem Nachmittag mit seinen roten Sneakers durch die maroden Gebäude und fotografiert, dann bereitet er sich auf sein Staatsexamen vor. In seiner freien Zeit bloggt er über Kunst und Kultur in der Stadt – und über Häuser, die seit vielen Jahren niemand mehr betreten hat.

Vor dem Offiziershaus tummeln sich in der Mittagssonne einige Stammgäste von go2know um einen Tisch für die Anmeldung. Für die meisten sind die kommenden fünf Stunden nicht ihre erste Fototour. Besucher aus Brandenburg, Sachsen und Nordrhein-Westfalen – einen Rucksack mit Kamera und Stativ hat fast jeder von ihnen dabei, manche schleppen sogar große Taschen mit weiterer Ausrüstung mit. Bevor es losgeht, muss jeder noch eine Erklärung unterschreiben, das Gelände auf eigene Gefahr zu betreten.

Wie die Kunden von go2know treibt auch Matthias P. die Neugier an. „Das ist wie eine Entdeckungstour“, sagt er. Fernab vom öffentlichen Trubel begibt er sich auf die Suche nach jenen Orten, die für andere in Vergessenheit geraten sind. „Zeitkapseln“ nennt er seine Fundstücke, mit deren Hilfe er seine Stadt jedes Mal ein bisschen besser kennenlernen will. Dass Menschen wie P. durch Zaunlöcher kriechen müssen, liegt daran, dass Schaulustige, Neugierige oder Blogger von den meisten Eigentümern nicht gern gesehen sind. Denn nicht selten werden die Gebäude durch die Eindringlinge beschädigt oder verwüstet. „Manche nehmen sich gerne ein paar Erinnerungsstücke mit“, sagt Andreas Böttger.

Den Verfall beschleunigt

Er und sein Agenturpartner Thilo Wiebers sehen diesen Trend ohnehin kritisch. „Vom Hausfriedensbruch einmal abgesehen, verschaffen sich viele dieser Gäste gewaltsam Zutritt“, sagt Böttger. „Sie respektieren die Gebäude nicht. Das schädigt sie und trägt immer mehr zu ihrem Verfall bei.“ Tatsächlich gewinnt der Trend – im Internet auch als „Lost Place“ bekannt – unter Bloggern immer mehr an Beliebtheit. Matthias P., der selbst über seine Besuche bloggt, sieht diesen Trend auch kritisch. „Es gibt Foren, in denen die genauen Zugänge zu dem Gelände im Detail beschrieben werden“, sagt er. „Das würde ich nie tun.“ Es läge in seinem Interesse, Menschen für diese Orte und deren Geschichte zu interessieren, nicht aber zu einem Besuch zu animieren.

Deswegen möchte er das, was er sieht, für Andere mit Fotos und Texten dokumentieren, aber nichts verändern oder mitnehmen. Und trotzdem verstößt er an diesem Tag ausnahmsweise – wie er sagt – gegen seine Regel: Auf dem Boden liegt ein Streifen vergilbter Negative. Er hält sie ins Licht, betrachtet die Bilder eines Festes mit zusammengekniffenen Augen – und steckt sie in seine Tasche.

Kurz darauf ertönt ein lauter Knall aus einem der Nebenräume, gefolgt von einem Rascheln. Noch mehr Besuch? Für Matthias P. ist es Zeit zu gehen.

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