Verfahren gegen frühere KZ-Sekretärin: Ein Prozess, der sein muss
Der Prozess gegen die frühere KZ-Sekretärin kann das lange Versagen der Justiz nicht ungeschehen machen. Aber es gilt: Alter schützt vor Strafe nicht.
D er Prozess gegen die 96-jährige Irmgard F. begann am Dienstag in Itzehoe mit dreiwöchiger Verspätung. Am ersten Tag der Hauptverhandlung war keine Anklage verlesen worden, weil die Angeklagte aus ihrem Pflegeheim ausgebüxt war. Die frühere Chefsekretärin des KZ Stutthof fühlt sich nämlich unschuldig.
Aber eigentlich findet dieses Verfahren mit einer Verspätung von mindestens 60 Jahren statt. Seit den 1950er Jahren war der bundesdeutschen Justiz bekannt, dass Irmgard F. über zwei lange Jahre die Korrespondenz des KZ-Kommandanten erledigt hatte, während unmittelbar neben ihrem Büro Zehntausende Häftlinge jämmerlich verhungerten, erschossen oder vergast wurden oder an Krankheiten verstarben. Eine Korrespondenz war das, die zum Tod dieser Menschen mittelbar beitrug. Doch jahrzehntelang musste sie sich für diese mutmaßliche Tatbeteiligung nicht verantworten – so wie Tausende andere KZ-Wachmänner und Schreibstubenbedienstete auch.
Denn deutsche Richter hatten sich darauf geeinigt, dass man die vorgeblich kleinen Täter laufen lassen kann. Nur bei einer unmittelbaren Tatbeteiligung machte man den Vollstreckern des Völkermords einen Prozess. Das aber waren nur wenige, denn die meisten ihrer Opfer waren tot und konnten nicht Zeugnis ablegen. Das war eine sehr bequeme Haltung, zumal die damaligen Richter und Staatsanwälte selbst nicht immer eine weiße Weste trugen.
Diese krumme Rechtsauffassung änderte sich erst, als die meisten Verantwortlichen längst verstorben waren. Und es dauerte noch einmal geschlagene vier Jahre von den ersten neuen Ermittlungen bis zum Prozessbeginn gegen Irmgard F. Jetzt, 76 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur, steht sie als Greisin vor Gericht, angeklagt der Beihilfe zum Mord in mindestens 11.000 Fällen. Aber macht das heute noch einen Sinn?
Überlebende mussten lange warten
Ja, eine Wiederholungsgefahr geht von der Angeklagten wohl nicht aus. Aber dennoch müssen in einem Rechtsstaat Taten wie die, die Irmgard F. vorgeworfen werden, gesühnt werden. Es steht nirgends geschrieben, dass Alter vor Strafe schützt. Aber die wenigen, inzwischen selbst uralten Überlebenden und ihre Nachkommen mussten bis heute warten, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt.
Der Prozess kann das jahrzehntelange Versagen der Justiz nicht ungeschehen machen. Aber noch furchtbarer wäre es, wenn sich wegen dieses Versagens die letzten lebenden mutmaßlichen Täter nicht für das verantworten müssen, was sie in der Nazizeit anderen Menschen angetan haben. Es wäre ein zweites Versagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass