Verfahren Polizeieinsatz 1. Mai: Friedensfürst, ganz bei sich
200 verletzte Menschen und kein Wort des Bedauerns? Über mangelnde Selbstkritik und den Versuch, übermäßige Polizeigewalt nach dem 1. Mai aufzuklären.
Etwas mehr Selbstkritik hatte man von ihm erwartet. Nicht nur weil es das letzte Mal war, dass er den Innenpolitikern des Berliner Abgeordnetenhauses Rede und Antwort zum Polizeieinsatz am 1. Mai stand. Ende des Monats geht Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch nach neunjähriger Amtszeit in den Ruhestand. Zu seinen Verdiensten gehört, dass er den Kreuzberger 1. Mai weitestgehend befriedet hat. Die großen Straßenschlachten gehören der Geschichte an. Glietsch gestand auch ein, dass Polizisten Fehler machen. Von seinen Vorgängern kannte man das nicht.
Glietschs letzter 1. Mai ist so gut gelaufen wie nie. Der Einschätzung schlossen sich am Montag alle Parlamentarier an, sogar die Abgeordneten von der CDU, die immer ein Haar in der Suppe finden, weil ihnen Glietschs Deeskakalationsstrategie eigentlich zuwider ist: Das Konzept setzt auf größtmögliche Zurückhaltung der Polizei bei Demonstrationen und gezieltes Herausgreifen von Straftätern. Auch das gehört neuerdings dazu: Uniformierte Einheiten streifen nach der Auflösung der "Revolutionären 1.-Mai-Demonstration" durch die an den Straßenecken verharrende Menge, um Gewalt durch ständige Präsenz zu verhindern. Durchmischung nennt sich das.
200 Leute mit Pfeffer
Genau da liegt sprichwörtlich der Hase im Pfeffer, was Glietsch aber nicht zugibt: Am späten Abend des 1. Mai zogen die Einheiten am Kottbusser Tor im Zickzack durch die Versammelten. Einige teilten dabei nach rechts und links kräftig aus. Nicht nur mit ihren Fäusten. Auch große Mengen Pfefferspray wurden versprüht. Die autonomen Sanitäter kamen kaum hinterher, Erste Hilfe zu leisten. "Wir hatten über 200 Leute mit Pfeffer", berichtete einer der Sanitäter der taz. "Das war Augenspülen im Akkord".
Was die Rechtsgrundlage für diese Vertreibungsstrategie sei, fragte die taz den Polizeipräsidenten unmittelbar nach dem 1. Mai. Der gab sich verwundert, sagte, Pfefferspray sei nur bei gezielten Angriffen auf Polizisten angewendet worden. Grundloses Besprühen würde den Tatbestand der Körperverletzung im Amt erfüllen.
Tags drauf erstatteten zwei Polizisten, die am 1. Mai in Zivil eingesetzt waren, Strafanzeige gegen unbekannte uniformierte Kollegen. Dabei gaben sie zu Protokoll, am Kottbusser Tor von Uniformierten mit Faustschlägen und Pfefferspray eingedeckt worden zu sein.
Spätestens das, sollte man glauben, ist Beweis, dass Polizisten wahllos und ohne Rechtsgrundlage Pfefferspray eingesetzt haben. Nicht so Glietsch. Der wertete die Strafanzeige der Zivilbeamten am Montag als " erfreuliches Zeichen, dass es in der Polizei ein hohes Maß an Selbstkontrolle gibt". Er sei optimistisch, den Vorfall bald aufklären zu können, sagte er. Das Landeskriminalamt ermittle mit Hochdruck, habe bereits alle verfügbaren Zeugen vernommen, Videos ausgewertet und kenne inzwischen die beiden Berliner Einheiten, zu denen die Tatverdächtigen gehören könnten.
Dann kam es: Von einem flächendeckenden Einsatz von Pfefferspray könne keine Rede sein, sagte Glietsch. Die beiden Zivilbeamten seien eingeschritten, als Flaschen in Richtung ihrer uniformierten Kollegen flogen. Mit anderen Worten: Kollateralschaden. Zwei Polizisten, die mit Augenreizungen vom Dienst abtreten müssen, wären hinnehmbar. Aber 200 verletzte Menschen und kein Wort des Bedauerns? In den Zeiten von Glietsch hatte man das nicht mehr für möglich gehalten. Ein Irrtum.
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