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Verdi, Witwen und Virgina Woolf im Wirtshaus

■ Das Potsdamer Hans-Otto-Theater macht seit 1949 Oper, Ballett und Schauspiel im Provisorium

Ein großer Auftrieb an Nerzjäckchen, Brillanten und Abendanzügen hätte hier etwas Komisches. Der Hinterhof vor der Spielstätte hatte die unordentlich-geschäftige Unübersichtlichkeit eines Kreuzberger Gewerbehofes. Im Foyer atmet man die strengen Düfte jener öffentlichen Putzchemie, die sofort nostalgische Erinnerungen an Schultage in den Sechzigern hervorruft. Das Potsdamer Hans-Otto-Theater hat einen Geruch, der sich so richtig erst nach Jahrzehnten unermüdlichen Wienerns einstellt. Foyer ist eigentlich übertrieben: Der schmale, langgezogene Vorraum mit dem einfachen Garderobetresen und ein paar Kleiderstangen ist mehr eine triste Warte- denn eine Wandelhalle. Kein Ort fürs Sehen und Gesehenwerden und kein Platz für Raucher: Wer eine Pausenzigarette braucht, um bis zum Finale durchzuhalten, wird aus Platzmangel auch bei Regen und Schnee in den Hinterhof hinausgeschickt. »Potsdam«, sagt Intendant Gero Hammer, »ist eine Stadt der Intelligenz.«

Bildungshunger und Theaterliebe sind unabdingbare Besuchsvoraussetzungen im Hans-Otto-Theater. Denn der 513-Plätze-Saal in der Zimmerstraße hat die muffige Aura eines verschlafenen Vorstadtkinos. Theatermäßig hat in Potsdam die Stunde Null nie aufgehört: 1949 bezog man behelfsweise das Anwesen des ehemaligen Tanzlokals »Zum Alten Fritz«, weil das alte Potsdamer Theater den Krieg nicht überstanden hatte. Und 1990 — 41 Jahre und eine ganze deutsche Staatsreform später — muß das heruntergekommene Ex- Vergnügungslokal noch immer einen 376-Mitarbeiter-Großbetrieb beherbergen. Blickt man in den Saal, denkt man unweigerlich an jene von der Theaterwissenschaft kitschig verklärte Epoche, als das Publikum in Wintermänteln glücklich einem ausgehungerten Mephisto lauschte und dafür noch Briketts mitbrachte. Schwer vorstellbar, daß hier Verdi- Opern aufgeführt werden, daß ein solches Theater über ein eigenes großes Sinfonieorchester mit 78 Musikern verfügt.

Abgesehen von der baulichen Misere der Spielstätte ist das Hans-Otto- Theater ein Schulbuchbeispiel für ein deutsches Staatstheater: In Oper, Operette, Schauspiel und Sinfoniekonzerte gliedert sich das Repertoire. Bei einer Laufzeit von ein bis zwei Jahren je Stück hat man durchschnittlich ständig 24 Titel parat — eine logistische Meisterleistung angesichts der vorhandenen Technik und Magazinierungsfläche. Gespielt wird alles, von der Welturaufführung moderner Dramatik bis zur Fledermaus. Auf mehreren Bühnen: Neben dem Haupthaus an der Zimmerstraße unterhält das Theater ein »Kleines Theater« am Alten Markt (208 Plätze) und das »Schloßtheater« im Neuen Palais von Sanssouci (291 Plätze). Klar, daß letzteres mit Mozart und höfischen Sprechkomödien des Rokoko bespielt wird.

Als ein Prophet mit dem ganz langen Atem hat sich Potsdams früherer Oberbürgermeister Paul erwiesen: Der eröffnete den Wirtshaussaal — gespielt wurde selbstredend Faust I — am 16.10.1949 als »Provisorium« und mit den tröstenden Worten: »Mit der Neugestaltung der Landeshauptstadt wird Potsdam in späteren Jahren auch wieder sein würdiges Theater haben.« Von Potsdams drei großen Bühnen hatte nur das Theater im Neuen Palais von Sanssouci den Krieg überlebt. Das 1785 eröffnete Schauspielhaus am Stadt-Kanal (»Kanaloper«) hatte den Krieg ebensowenig überstanden wie das Schloßtheater im ehemaligen Stadtschloß. Die Landeshauptstadt ließ dann allerdings noch mächtig auf sich warten...

Intendant Gero Hammer, seit 1971 Potsdams oberster Theatermann, wird nun nicht länger warten dürfen. Denn kaum war die Landeshauptstadt in Sicht, haben ihn die Stadtväter gefeuert (die taz berichtete). Gekündigt wurde der Intendant nicht wegen persönlicher Verstrickungen mit dem untergegangenen Honecker-Regime, wie beide Seiten versichern. Den Chefsessel muß er vielmehr im Rahmen einer umfassenden »Reinemacheaktion« der neuen rot-grünen Stadtregierung im gesamten Kulturbereich räumen. »Wir wollen uns einfach nicht mit dem abfinden, was übernommen worden ist«, begründet Kulturstadträtin Saskia Hüneke (Neues Forum) den Rausschmiß.

Hammer, der noch bis zum Ende der Spielzeit weiterarbeiten darf, sieht seine Kündigung dennoch auch individuell in seiner Person begründet. Schuld sei auch sein kompromißloses Eintreten für den begonnenen Theaterneubau am Alten Markt. Wie berichtet, wurde dieser Bau unmittelbar nach der Wende mit Rücksicht auf das historische Stadtbild gestoppt. Potsdams neue Demokraten sahen in dem halbfertigen, bombastischen Betonbau mitten in ihrem Stadtzentrum ein besonders schlimmes Symbol der verhaßten Brutalo- Architektur der SED. Nach wie vor halte er daran fest, daß der 1988 begonnene Betonklotz vollendet werden müsse. Ein behutsames Eingehen des modernen Zweckbaus auf die historische Bausubstanz sei noch immer möglich. Haupttriebfeder einer solchen unpopulären Position, dies räumt der geschaßte Chef aber auch ein, ist die Sorge, daß »uns sonst auf Jahre niemand mehr ein neues Theater baut«.

Bis zur Tausendjahrfeier 1993 wird es nach Baustopp und neuerlich ausgeschriebenem Wettbewerb nebst Standortsuche nicht mehr reichen. Wie allerorten in der Barockstadt wird man bis dahin auch am Theater nur noch Fassadenkosmetik betreiben können. Kosmetik an einer Leiche, denn nach Meinung der Theaterleute ist an dem alten Gasthaus nichts mehr zu retten. »Noch immer steht bei Hochwasser im Orchestergraben das Wasser«, ist nur eine der Klagen des Theaters in einer langen Liste, die dem Publikum per Flugblatt mit nach Hause gegeben wird.

Anders als viele andere Theater in der ehemaligen DDR blickt man dagegen mit wenig Sorge in die künstlerische Zukunft. Trotz Währungsunion, wirtschaftlicher Krise und neuen Konsumangeboten erreicht das Hans-Otto-Theater noch immer eine Auslastung von 60 Prozent — gegenüber den DDR-üblichen 85 bis 90 Prozent vor der Wende. Intendant Hammer verweist dabei stolz darauf, daß man in Potsdam anders als anderswo üblich niemals nur vor abkommandierten Betriebsbrigaden gespielt habe. »Nach drei Flops wurde bei uns auch früher schon ein Stück abgesetzt«, sagt er. Der Spielplan sei schon wegen der Konkurrenz zu den großen Ostberliner Theatern immer auf den freien Verkauf hin konzipiert worden.

Das liegt aber auch am besonderen Potsdamer Publikum: Hauptstadtnah, intellektuell, aus dem Umfeld der Hochschulen, Kultureinrichtungen und der Filmindustrie in Babelsberg — eine solche bildungsbürgerlich-alternative Mischung hat keine andere DDR-Provinzstadt zu bieten.

Trotz seines klassenkämpferischen Namens (siehe Kasten) war und ist das Hans-Otto-Theater ein bürgerliches, deutsches Staatstheater durch und durch — das heißt von Rostock bis Konstanz beständiges, hochsubventioniertes Balancieren zwischen den Bedürfnissen der Machthaber und sanfter Rebellion, zwischen tröstender Klassik, hehridealistischen Gegenwelten und einlullender Operettenseligkeit. Auf Madame Butterfly, Fledermaus, Carmen und die allzeit Lustigen Weiber von Windsor brauchten die Potsdamer auch im real-existierenden Sozialismus nie zu verzichten.

Und als die Herren im ZK schließlich so langsam zu vergreisen drohten, bemühte sich das Theater zunehmend um kritischere, neue DDR-Literatur und den Anschluß an die westliche Theaterwelt der achtziger Jahre (Puigs Kuß der Spinnenfrau, Shaffers Amadeus). In der experimentellen Reihe Montagabend gab's Rockmusik, Kabarett, Heiner Müller, Liedermacher, Kleinkunst. Nicht immer linientreu wurden jene feinen Zwischentöne und Doppeldeutigkeiten gepflegt, wie sie Theater in Diktaturen immer entwickeln und über deren Einschätzung und Wirkung(slosigkeit?) hinterher Außenstehende schon gar nicht befinden können. Stadt- und Staatstheater in typisch deutscher Tradition. Auch jetzt hat gerade wieder einmal eine Lustige Witwe Premiere gehabt...

Die Idee der Stadt- und Staatstheater ist in Deutschland zählebig, ganz gleich, wer herrscht. Inzwischen zeichnet sich auch in Potsdam erneuter Bedarf an Repräsentationskultur ab. Eine Revolution der Theaterpolitik wird es auch hier nicht geben. Die zahlreichen neuen alternativen Gruppen — aus deren Umfeld sich auch Teile des rot-grünen Stadtestablishments rekrutieren — werden sich damit abfinden müssen, nur einen kleineren Teil der Staatsknete erhalten zu können. Denn auch Kulturdezernentin Hüneke vom Neuen Forum argumentiert mit dem besonderen Repräsentationsbedarf einer Landeshauptstadt.

Beim Stichwort »Brandenburgisches Staatstheater« halten sich Stadt und Land noch alle bedeckt. Die Chancen für das Hans-Otto-Theater stehen jedoch gut: Konkurrenz gibt es höchstens aus Frankfurt/Oder und vom bisherigen Bezirkstheater Cottbus. Fraglich bleibt nun jedoch, ob das neue Bundesland den bombastischen Titel »Staatstheater« auch einer Bühne verleihen wird, die dann aus bautechnischen Gründen vielleicht nicht einmal mehr in ihrem 41jährigen Wirtshausprovisorium wird spielen können. Thomas Kuppinger

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