: „Verdammt friedliche Leute“
Als Ahmad Obeidi wegen Mordes an seiner Schwester Morsal verurteilt wurde, randalierte seine Familie im Gerichtssaal. Ob man wirklich von einem „Ehrenmord“ sprechen kann, darüber gehen die Meinungen auseinander
INTERVIEWS DANIEL WIESE
taz: Herr Shirdel, wie soll man sich die Reaktionen von Morsals Familie nach dem Urteil erklären?
Rafiq Shirdel: Die Familie hatte ein milderes Urteil erwartet, sie hatte gehofft, dass ihr Sohn wegen Totschlags und nicht wegen Mordes verurteilt wird. Sie haben ja auch keine schlechten Anwälte gehabt.
Sie hatten Staranwälte. Einer davon, Thomas Bliwier, hat sein Mandat wegen dieser Beschimpfungen des Gerichts niedergelegt.
Die Familie war eben sehr enttäuscht. Auch der Anwalt hatte mit einem anderen Urteil gerechnet. Die Gutachterin hatte gesagt, der Junge ist krank. Eine Familie, die zwei Kinder verliert – ich weiß nicht, was man da fühlt.
Der Verurteilte nannte den Staatsanwalt einen „Hurensohn“.
Sie müssen noch etwas anderes sehen. Das sind Menschen, die in Afghanistan gelebt haben. Und in einem Land, in dem nur Krieg herrscht, musst du deine Rechte mit Gewalt erreichen. Dieses Gefühl haben sie immer noch, glaube ich.
Das Gericht meinte, dass er seine Schwester beobachtet und kontrolliert hat. Ist so ein Verhalten unter den deutschen Afghanen verbreitet?
Wie viele Schwestern haben Sie? Es ist doch ganz normal, dass die größeren Geschwister auf die kleineren aufpassen, und erst recht in einem Kriegsland, wo viele keinen Vater mehr haben oder keine Mutter.
Offenbar hat man ihm gesagt, die Schwester sei Prostituierte und würde Drogen verkaufen. Kann es sein, dass er deswegen ausgerastet ist?
Ja, wenn er das von seiner Schwester erfährt, kann das sein. Aber man muss die Hintergründe sehen, warum die afghanischen Jungen und Mädchen so sind.
Warum hat der Vater die Kerze umgeworfen, die die Frauen von Terre des Femmes aufgestellt hatten? Da war das Bild seiner Tochter drauf.
Die Frauen von Terre des Femmes wollten auch ein hartes Urteil, deswegen war der Vater wütend. Das hat nichts mit der Tochter zu tun. Im Islam haben Kerzen überhaupt keine Bedeutung. Wir zünden keine Kerzen an, wenn jemand tot ist.
Was bei dem Prozess herauskam, ist schon eine extreme Gewaltausübung gegenüber der Tochter. Auch der Vater soll sie geschlagen haben.
Was in Berlin passiert ist mit Hatun, deren Bruder sie mit einem Kopfschuss getötet hat, das ist ein Ehrenmord. Aber das hier hat nichts damit zu tun, sondern mit der Vergangenheit aus Krieg und Zerstörung. Normalerweise sind die Afghanen verdammt friedliche Leute.
taz: Herr Popal, können Sie sich vorstellen, dass es sich beim Tod von Morsal Obeidi um einen Ehrenmord gehandelt hat?
Karim Popal: Ich bin ein deutscher Jurist, dazu müsste ich die Akten sehen.
Und wenn man von dem Fall weggeht?
Generell gibt es in Afghanistan diesen Ehrenkodex, leider. Ich habe für den Aufbau der Justiz in verschiedenen Städten in Afghanistan gearbeitet, in Herat, in Kundus, in Kabul. Täglich haben die Gerichte dort mit Morden zu tun, die man als Ehrenmorde bezeichnen könnte. Wenn eine Frau die Ehre einer Familie verletzt, endet das in 90 Prozent der Fälle mit einem Mord.
Was muss eine Frau tun, um die Ehre zu verletzen?
Wenn sie sagt, ich möchte nicht den Mann heiraten, den meine Familie mir vorschreibt, ist das ein Verstoß gegen den Ehrenkodex. Wenn die Frau ihre Jungfräulichkeit verloren hat, so dass der Ehemann sie der Familie zurückbringt, ist das eine Schande, die kein Mann erleben möchte.
Sind diese Vorstellungen auch bei den Afghanen in Deutschland verbreitet?
Glücklicherweise sehr wenig. Afghanen lösen ihre Probleme gern vor den deutschen Familiengerichten. Ich bin in zig Verfahren dabei gewesen, bei denen Frauen und Männer sich scheiden lassen wollten. Aber es gibt einen kleinen Anteil – und in Hamburg leben immerhin mehrere tausend Afghanen – die ihren Ehrenkodex über alles stellen.
Der jüngere Bruder schrie vor Gericht: „Ihr habt mir meine Schwester genommen!“ Können Sie sich diesen Wutausbruch erklären?
Das verstehe ich auch nicht. Das Gericht hat die Schwester doch nicht ermordet. Aber man hört manchmal von Afghanen oder auch Kurden, dass sie, wenn ihre Frauen so frei leben möchten wie ein deutsches Mädchen, dem Angebot der deutschen Gesellschaft die Schuld geben. Ich weiß aber nicht, was in dem Kopf dieses jungen Mannes vorgegangen ist.
Der Angeklagte rief, er wäre in Afghanistan längst draußen. Existiert da die Vorstellung, das Gericht wäre gar nicht zuständig?
Nein. Auch nach islamischem Recht müsste ein Geschwistermord gesühnt werden. Doch die Afghanen machen einen Unterschied zwischen dem Islam und ihrer Kultur, und so können sie auf die Idee kommen, dass, wenn einer Frau nachgewiesen würde, dass sie sich prostituiert hat, irgendein Dorfvorsteher dem Mann, der diese Frau tötet, Recht gibt. Aber das ist nur eine Phantasie, sogar im heutigen Afghanistan.
Hinweise:RAFIQ SHIRDEL, 51, ist Islamwissenschaftler und Sprecher des Hamburger Netzwerks Afghanistan Info.KARIM POPAL, 52, kam 1979 aus Afghanistan nach Deutschland. Er arbeitet als Rechtsanwalt in Bremen.