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Verbrechen in VenezuelaStammplatz an der Leichenhalle

Venezuela hat die zweithöchste Mordrate der Welt. Die Leichen aus dem Großraum Caracas werden in Bello Monte obduziert – ein Besuch vor Ort.

Caracas – Metropole mit hoher Mordrate. Bild: imago/aaron sosa

CARACAS taz | Bello Monte bietet einen schönen Ausblick über Caracas. Vor dem am Hang liegenden Leichenschauhaus brennt eine ewige Flamme. Eigentlich brennt die Fackel für die Opfer der Gerichtsmedizin, die während ihrer Arbeit ums Leben kamen. Aber schon lange sind Flamme und Leichenschauhaus von Bello Monte die bekanntesten Symbole der Gewaltkriminalität in Venezuela. Wer im Großraum Caracas erschossen wird, wird in Bello Monte obduziert.

Laut UN wurden 2012 in Venezuela 16.072 Menschen ermordet. Das sind 54 Gewaltopfer pro 100.000 EinwohnerInnen – diese Quote wird nur von Honduras übertroffen. Nach UN-Angaben ist Venezuela das einzige Land, dessen Mordrate seit 1995 kontinuierlich gestiegen ist.

Aus dem nüchternen Zweckbau des Leichenschauhauses dringt ein unangenehmer Geruch. In den verglasten Warteräumen sitzen Angehörige und warten auf die Freigabe ihrer Toten. Marisa Mauri sitzt auf einem Mäuerchen unter dem Vordach. In den Händen wringt sie ein kleines Handtuch. Ihre Augen sind ausgeweint. Am vergangenen Sonntag wurde ihr Sohn bei einem Streit angeschossen, im Krankenhaus ist er gestorben.

Marisa Mauri sitzt zum dritten Mal auf dem Mäuerchen vor dem Leichenschauhaus. „Das hier ist mein Platz, immer hier“ sagt sie. Sie wartet auf ihre Tochter und auf die Freigabe ihres toten Sohnes. Im Jahr 2000 wurde ihr 16-jähriger Sohn bei einem Streit erschossen, 2011 ihr zweiter Sohn im Alter von 28 Jahren. Auf einer Fete soll es um ein Mädchen gegangen sein.

Wer, wann, wo, wie?

Vergangenen Sonntag wurde ihr dritter Sohn getötet. Er war 20 Jahre alt. Nächste Woche wollten sie den ersten Geburtstag seiner Tochter feiern, alles vorbereitet. „Jetzt bleiben mir nur noch die Enkelin und meine beiden Töchter“, sagt die 49-Jährige. Vom Vater lebt sie seit Jahren getrennt.

Plötzlich stürzt sich ein kleiner Pressetross auf Marisa Mauri. Zwei Kameras halten auf sie drauf, drei Mikrofone vor den Mund. Aus den geschminkten Gesichtern der Fernsehjournalistinnen schießen die Fragen im Verhörstil: Wer wurde ermordet, wann, wo, wie und von wem? Wie fühlt sie sich?

Die vielen Mordopfer vom Wochenende um den Muttertag herum haben die Medien veranlasst, ihre Teams nach Bello Monte zu schicken. Von Freitagmorgen bis Montag früh wurden 59 Leichen eingeliefert. Es ist die bisher größte Zahl an einem Wochenende in diesem Jahr. In den ersten elf Maitagen wurden in Caracas 185 Personen ermordet. Landesweit waren es von Januar bis April 4.680. Das sind 39 pro Tag, sagen die Zahlen der venezolanischen Gerichtsmedizin CICPC.

Die Tochter kommt. Schützend stellt sie sich vor ihre Mutter, lautstark macht sie dem Pressespuk ein Ende. Der Tross zieht ab und steht kurz darauf um eine andere Frau herum. Sie hat jetzt alle Unterlagen abgegeben, sagt die 24-Jährige: Geburtsurkunde, Ausweis, Totenschein und die Anzeige bei der Polizei.

Schlechte Aufklärungsquote

Festnahmen, Verurteilungen? Marisa Mauri winkt ab. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Observatorio Venezolano de Violencia wurde im Jahr 2010 bei 91 von 100 Mordfällen niemand verhaftet. Daran hat sich nichts geändert.

Für Marisa Mauro ist Gott die einzige Hoffnung auf Gerechtigkeit. Der mutmaßliche Mörder ihres ersten Sohnes starb wenig später bei einem Verkehrsunfall. Der zweite wurde ein Jahr nach den tödlichen Schüssen auf ihren zweiten Sohn an derselben Stelle erschossen.

„Mein Sohn. Gebt mir meinen Sohn wieder.“ Auf der anderen Straßenseite bricht eine Frau weinend zusammen. Die rund hundert Wartenden schauen hinüber. „Mein Kind, mein Kind“, schluchzt die Frau. Sie klammert sich an ihren Begleiter. Marisa Mauri treten jetzt wieder Tränen in die Augen.

Warum so viel Gewalt? Für sie sind es schlechte Erziehung, mangelnde Disziplin und vor allem die Orientierungslosigkeit der Jugendlichen. Ob sie damit richtig liegt? Sie hebt und senkt die Schultern.

In der Gerichtsmedizin geht alles seinen routinierten Gang. Die Tochter kommt zurück, alles sei fertig. Sie könnten die Leiche jetzt in Empfang nehmen.

Marisa Mauri steht auf. Sie hofft, nie mehr nach Bello Monte kommen zu müssen.

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7 Kommentare

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  • Es muß doch langsam auffallen dass die USA nicht die Retter vor Chaos sind sondern immer wieder deren Ursache.

     

    Bevor gerettet wird wird von US pseudo NGOs mit viel Geld Opposition gekauft und mit Waffen versorgt.

     

    5 Milliarden nur in der Ukraine zb ist es den USA bisher Wert in Europa US Interessen durchzusetzen.

     

    Das ist in Venezuela auch nicht anders. Als Kerry in den USA Mord und Totschlag in Venezuela beschwörte wanderte ein Guardian Reporter über genau die Straßen die Kerry beschrieb, und sah keine Aufstände. Er beschrieb eine Wochenend Gucchi Rebellion von Leuten die sich aus den USA eine Vergrößerung ihres Reichtums versprechen

     

    Übrigens hat die USA mehr Menschen auf die Gesamtbevölkerung bezogen hinter Gitter als jeder andere Staat der Welt. Deren Mordraten stehen auch bei denen von Bürgerkriegsländern. Auf den Straßen der USA werden mehr Menschen ermordet wie US Soldaten in den Kriegen der USA sterben.

    Dafür gibt es Gründe.

  • Äußerst kurzsichtig, was Sie schreiben, denn es war lange vor der Regierung Maduro, leider auch vor der Regierung Chávez und leider auch vor dem Aufkommen der "bolivarischen Bewegung" überhaupt im wesentlichen genauso... Ich habe es erlebt. Damals waren die an der Macht, die jetzt als "Opposition" lauthals die Regierung kritisieren. Trauriges Fazit: Alle Tragen wohl Verantwortung. Da dienen Kriminalität und Mordrate de facto nur dazu, der jeweils anderen Partei propagandistisch die Schuld in Schuhe zu schieben. Pingpong-Spiel! Klappt ja auch, denn uninformierte Leser fallen darauf rein! Wirkliches Bemühen, etwas an diesen und anderen Umständen dort zu ändern, war leider kaum zu erkennen bzw. blieb wohl in Korruption usw. stecken. Anscheinend will fast jeder nur die Macht, um etwas vom Erdölgeld abzukriegen. Suche nach tieferen Ursachen in der Gesellschaft? Pustekuchen! Und bitte jetzt nicht anfangen, von Armut usw. zu schwafeln. Es gibt viel, viel ärmere Länder auch in diesem Kulturkreis, die erheblich sicherer sind.

    • @THG:

      Die Morde haben sich vervielfaeltigt.De Unterschied zwischen VOR und NACH Chavez ist einfach: frueher gab es einige Morde und Strafverfolgung , heute gibt es keine Strafverfolgung.Am Woc henende sind es in Caracas normalerweise um die 60 Morde.

  • Das ist das Ergebnis der bolivarianischen Revolution. Es ist eine Schande, wie Chavez und Maduro das Land zugrundegerichtet haben. Hier waeren internationale Interventionen angebracht(im Gegensatz zur Ukraine).

    • @Udo Henn:

      Es ist definitiv nicht die Schuld von Chavez oder Maduro, es sind Mörderbanden finanziert von der Opposition die das totale Chaos wollen. Alle Mittel sind recht, wie in Allendes Chile - Sabotage, Lügenpropaganda bis zu den von den USA unterstützten Putschversuchen

    • @Udo Henn:

      wie in Honduras, Mexico, Kolumbien oder in den USA (wo viel Menschen mehr Ermordet werden in Anzahl der Personen nicht auf Einwohnerzahlen %) und daher mehr Familien Grund zur Trauer haben. Außerdem legt der Kontext nahe das Bandenkriege, zu mindestens Ursache der im Beitrag als Aufhänger benutzten Toten waren. Die sind aber bekanntlich das Resultat von Armut . Von einer nachkolonialen Armut des durch die Yankees ausgepressten „Hinterhof Amerikas“. Die bolivarianischen Revolution versucht eben diese (teilweise leider auch per trial and error) und nicht unwesentlich durch den „Westen“ und einheimischen Verlierern boykottiert zu vermindern. Um eben dieses zu bekämpfen sind ALLE mittel Recht, wirtschaftliche Sabotage, Falschmeldungen, Verleumdungen, Politische Attentate bis zum bewaffneten Umsturzversuch sekundiert durch US Botschaftspersonal, dubiosen NGOs (da (teilweise) parallelen mit der Ukraine) als Waffe gegen das Wählervotum, in mehreren (von den „Wahlbeobachtern nicht beanstandeten) Wahlen trotz diverser Wahlfinten der „Opposition“, und auch tatsächlichen Mißständen die Mehrzahl der Einwohner FÜR die WEITERFÜHRUNG der (Bolivarischen) Politik gestimmt haben (da parallelen zu Russland) mag es Ihnen und Ihresgleichen gefallen oder nicht – hier zählt halt noch die Mehrzahl der zur Wahl aufgerufenen Bürger entscheidet nicht die Mehrzahl des Geldes oder des „gespendeten“ Wahlbudgets bei inhaltsleeren Personenwahlen...

      • @NETS_ROT:

        Hallo ihr alle,

        ich freue mich immer wenn die Leute sich für Venezuela interessieren.

        Ich weiss viele Leute wollen immer noch glauben dass das Schuld viele Verbrechen auf dem Welt Schuld von die vielen "Imperios" ist.

        In unseren Fall glauben viele alles schlimmes was in Venezuela passiert ist Schuld der Oppostion und der Imperio. IST ABER NICHT SO....

        Ich selber habe in meine jungendlichen Jahren Chavez gewält, wir alle wollten nichts über Politik wissen weil alle die Nasse voll von den Politiker hatten...

        Große Fehler! wenn das Volks nicht mehr sich interessiert, nicht mehr kritisch ist und nicht mehr sich hinter frägt nach Ursachen und möglichen Folgen.....

        Das Land ist so arm wie nie!

        und ACHTUNG: VOR Chavez war nicht alles richtig oder gut, aber viel besser.... Obwohl wir sehr viel Geld haben, findet man keinen Lebensmittel, Medikamenten, und viele andere wichtige Sachen nicht mehr.

        Die Regierung hat seine Civil-Armee ausgerüstet und doktriniert. Das Land ist gespaltet wie nie....

        sehr traurig alles, und viele glauben noch an de Revolution....

        Anders denken, oder kritisch denken wird verhaftet.....Kritischer werden verfolgt und jüngen Studenten emordet...

        Leute sind zwungen Demostrieren zu gehen.... ich konnte viel mehr erzählen, es reicht aber jetzt schon...

        eine noch..... ein Minister hat gesagt, die Leute müssen Arm bleiben damit die nicht wie die Mittelschicht werden (also kritisch).

        Ich dachte immer ich wäre Links orientiert, und finde die USA nicht gerade sympatisch aber mit so eine Pseudo-Linke will nicht zu tun haben, so viel Linke-Revolution und jetzt verkaufen wir das Land an eine andere Konsumismus-Imperio: China.

         

        Bitte seid kritischer und nicht schwarz-weiss denken.....

        und vor allem sich besser informieren.....

        übringens, bin Venezolanerin, kenne sehr gut das Venezuela VOR und NACH Chávez....