Verbrannte Dörfer

■ Das Moskauer Kino-Militärarchiv birgt stapelweise Dokumentarfilme über die Verbrechen der Deutschen an der sowjetischen Zivilbevölkerung

Michael Schneider

Niemand hat uns dazu gedrängt, auch Rady nicht, die sowjetischen Filmdokumente über die „verbrannten Dörfer“ und über jene Massaker anzusehen, die die deutschen Heere und Einsatzkommandos in den besetzten Gebieten der Sowjetunion begangen haben. Der Besuch im Moskauer Kino-Militärarchiv stand auch nicht auf dem Programm, das der Moskauer Schriftstellerverband für uns vorgesehen hatte. Nur auf mein wiederholtes Drängen hin wurde die Ausnahmegenehmigung hierzu von den zuständigen Behörden schließlich nach zwei Wochen gewährt.

Am Schlagbaum des gut gesicherten Gebäudekomplexes werden wir von einer jungen, sommersprossigen Beamtin in Uniform sehr unwirsch empfangen. Erst will sie uns trotz der Ausnahmegenehmigung, die Rady ihr vorlegt, nicht passieren lassen, da wir unsere Pässe nicht dabei haben. Diese liegen nämlich in der Rezeption des Hotels Budapest.

Die Beamtin fragt uns, ob wir russisch sprechen. Ein bißchen, sagen wir auf Russisch, aber wir seien erst am Anfang. Warum nur ein bißchen, ob wir denn kein Interesse für die russische Sprache hätten, ob diese uns nicht gefalle, herrscht sie uns an. Es ist das erste Mal auf dieser Reise, daß wir derart unfreundlich behandelt werden, ja, so etwas wie Deutschenhaß zu spüren bekommen. Vielleicht, geht es mir durch den Kopf, hängt dies mit der Örtlichkeit zusammen, die sie zu bewachen hat; sind doch in dem vor uns liegenden dreistöckigen Backsteingebäude in zahllosen Filmrollen jene Verbrechen gespeichert, die die Deutschen am sowjetischen Volk begangen haben.

Nachdem Rady mit ihr länger verhandelt und sich für uns verbürgt hat - der Stempel des Moskauer Schriftstellerverbandes scheint sie denn doch zu beeindrucken -, dürfen wir endlich passieren. Von zwei anderen uniformierten Beamtinnen eskortiert, werden wir über den langen Hof, dann über verschiedene Treppen und Korridore geleitet. Mir ist ziemlich mulmig zumute. Das strenge Reglement, die Quasi-Bewachung und die bange Erwartung, nun mit einer Seite der deutschen Verbrechen konfrontiert zu werden, über die in der Bundesrepublik noch heute der Mantel des Schweigens ausgebreitet wird, geben mir einen Moment das Gefühl, zu einem Verhör statt zu einer Dokumentationsstelle geführt zu werden.

Schließlich betreten wir den Filmvorführraum, wo wir von einer älteren rundlichen Frau, die in ihrem weißen Kittel eher wie eine Ärztin denn wie eine Archivarin aussieht, sehr freundlich begrüßt und empfangen werden. Während sie die etwa zehn Zentimeter breiten Zelluloidstreifen um die Rollen des Abspielgeräts legt, erkundigt sie sich eingehend, woher wir kommen, was uns hierher geführt hat, wieviel Kinder wir haben und so weiter. Ich bin augenblicklich erleichtert, daß sie uns jedenfalls nicht als Nachkommen jenes deutschen Täterkollektivs behandelt, deren Untaten in den meterhohen Stapeln von Filmrollen archiviert sind, die hier bereitliegen. Besucher und Wissenschaftler aus der DDR seien schon ein paar Male hier gewesen, aber Leute aus der Bundesrepublik noch nie, sagt die Archivarin ohne Vorwurf in der Stimme. Es sei ja auch gerade kein Vergnügen, sich diese Filme anzusehen, fügt sie leise seufzend hinzu. Gott sei Dank sei dies ja alles Vergangenheit, und heute habe die Sowjetunion auch zur Bundesrepublik freundschaftliche Beziehungen. Es ist, als wolle sie uns vorbeugend trösten über die schockierenden Bilder, die wir gleich sehen werden.

Wir nehmen vor dem Monitor Platz. Nachdem die Archivarin die Jalousie vor dem einzigen Fenster heruntergelassen hat, sehen wir als erstes einen Ausschnitt aus filmischen Originaldokumenten, die 1946/47 dem Nürnberger Militärtribunal als Beweismaterialien vorgelegt worden sind und die keine westdeutsche Fernsehanstalt jemals ausgestrahlt hat.

Der Film beginnt mit der eidesstattlichen Erklärung sowjetischer Kameraleute, daß diese Aufnahmen absolut echt und nicht retuschiert worden sind. Dann folgen, von einzelnen Zwischentiteln und Kommentaren unterbrochen, schier endlose Sequenzen über verbrannte Dörfer und Massengräber in den von den Deutschen besetzten Gebieten: Gruben, die mit Leichen von Frauen, Männern und Kindern gefüllt sind; schneebedeckte Plätze in Dörfern und Städten, auf denen in geometrischen Reihen die Toten liegen. Da heben sowjetische Soldaten gerade ein Massengrab aus und legen lauter abgehackte Kinderköpfe in eine Reihe nebeneinander. Da werden aus den Ruinen einer Kirche, aus dem Aschenhaufen einer ehemaligen Scheune die verkohlten Überreste menschlicher Skelette herausgetragen und so weiter und so fort.

Endlose Sequenzen

über Massengräber

Die endlosen Bildsequenzen von Massengräbern und Leichenhaufen erzeugen in mir bald eine steinerne Apathie. Das Schlimme ist, daß selbst das anfängliche Grauen, das die Bilder hervorrufen, mit der Wiederholung abstumpft. Dabei kann nur die Wiederholung, wenn überhaupt, eine Vorstellung von den unfaßbaren Dimensionen der Verbrechen vermitteln, die hier verübt worden sind. Aber die menschliche Psyche ist nicht fähig, diese Dimensionen zu erfassen, allenfalls Bruchstücke des Martyriums eines einzelnen aus der anonymen Masse der Opfer. Nur dort, wo in einem Massengrab noch ein Gesicht oder ein offenes Augenpaar, also das Attribut eines menschlichen Wesens in der unterschiedslos gewordenen Kadavermasse erkennbar ist, wird das Grauen wieder lebendig und verbindet sich mit einem Gefühl. Am meisten erschüttern mich jene Bilder - und bleiben mir haften -, in denen das nicht darstellbare Leiden der ausgelöschten Opfer durch den Schmerz der Überlebenden gleichsam stellvertretend sichtbar wird; so das Bild jener in dicke Mäntel und Kopftücher gehüllten russischen Frauen, die auf der Suche nach ihren Männern und Söhnen die Leichenfelder entlang gehen, bis eine schließlich stehen bleibt, sich unsicher über einen Toten beugt und sich dann mit einem Aufschrei über ihn wirft.

Der Filmkommentar nennt jeweils den Ort und - soweit noch rekonstruierbar - das Datum der von den deutschen Heeren und Einsatzkommandos verübten Verbrechen sowie die ungefähre Zahl der Opfer. Hier eine kleine, bruchstückhafte Auswahl, die ich den hektographierten Beiblättern entnommen habe, die mir die Archivarin zur Verfügung stellte:

-Am 29.November 1941 wurden in Rostow 26.000 Einwohner liquidiert. Im Bahnhofsgebäude von Rostow wurden außerdem Hunderte von verwundeten Rotarmisten erschossen. Vor dem Rückzug wollten die Deutschen die Leichen noch verbrennen, aber dafür reichte die Zeit nicht mehr.

-Am 29. und 30.September 1941 wurden 33.771 Einwohner von Kiew, die meisten von ihnen waren Juden, nach Absprache der Einsatzgruppe C mit dem Stadtkommandanten von Kiew, Generalmajor Eberhardt, in die Schlucht von Babi Jar gelockt. Die Propagandakompanie der 6.Armee hatte 2.000 Plakate gedruckt, mit denen die Juden zur „Umsiedlung“ aufgerufen wurden. Heereseinheiten der 6.Armee besorgten die Absperrung der Schlucht und die Heerespioniere sprengten nach dem Massaker die Wände der Schlucht ab, um die Leichenberge zu verdecken.

-Am 21.Dezember 1941 wurden in Kertsch an der Krim über 7.000 Einwohner erschossen. Beim Rückzug der deutschen Truppen aus der Krim wurden zahllose Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, wobei Tausende von Frauen, Kindern und Greisen bei lebendigem Leibe, oft in verriegelten Scheunen, verbrannten.

-Bei Charkow wurde nach der Befreiung ein Massengrab mit 14.000 Leichen ausgehoben. Wie Augenzeugen berichteten, mußten sich die Opfer, in der Mehrzahl russische Juden und als Partisanen verdächtigte Zivilisten, an den Rand der Grube treten, niederknien, um dann von hinten erschossen zu werden.

-Im Donezgebiet wurden mehr als 200.000 sowjetische Zivilisten liquidiert. Auch junge Männer, die sich weigerten, als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu gehen, wurden erschossen.

-In einem Kriegsgefangenenlager bei Kiew haben die Deutschen vor dem Rückzug an einem Tag 68.000 sowjetische Kriegsgefangene erschossen.

-In einem KZ neben Lublin haben die SS-Wachmannschaften vor ihrer Flucht sämtliche Gefangenen liquidiert.

-In einem Lager von 4.000 sowjetischen Kriegsgefangenen in Oberschlesien wurde vom 29.Januar 1945 an kein Essen mehr ausgegeben. Als das Lager am 24.Mai von der Roten Armee befreit wurde, waren alle Insassen bis auf einen verhungert.

Verdrängte Greueltaten

Wie die meisten meiner Landsleute neige ich dazu, die Bilder von Massengräbern und Opferbilanzen von solchen Größenordnungen unwillkürlich mit dem Genozid an den Juden in Verbindung zu bringen. Doch diese Vorstellung ist einseitig und verdeckt die andere Hälfte der geschichtlichen Wahrheit: nämlich daß im Zuge der deutschen Vernichtungsfeldzüge im Osten zugleich noch ein anderer Holocaust, ein zweiter Genozid an Millionen sowjetischer Zivilisten und Kriegsgefangenen verübt worden ist. Die fast ausschließliche Beschäftigung mit dem Holocaust und der nach dem Krieg fortgesetzte virulente Antisowjetismus und Antikommunismus haben die meisten Bundesbürger, die älteren wie die jüngeren, bis heute daran gehindert, diesen zweiten Genozid überhaupt wahrzunehmen. Auch die spektakuläre und multimedial aufbereitete „Historiker-Debatte“, die über ein Jahr lang die Gemüter der Bundesbürger erhitzte, war geprägt von dieser nahezu ausschließlichen Fixierung auf den Holocaust. Als ob die zigtausend verbrannten Dörfer in Belorussia, im Baltikum und der Ukraine, die Aushungerung Leningrads oder das Massensterben in den deutschen Lagern für sowjetische Kriegsgefangene nicht so barbarisch gewesen wären und nicht die gleiche öffentliche Beachtung und Auseinandersetzung verdient hätten wie die in Auschwitz und Treblinka fabrikmäßig betriebene Vernichtung von Millionen Juden! Längst scheint auch für die Internationale der Opfer des Nationalsozialismus der Brechtsche Satz zu gelten: Und die einen stehen im Licht, und die anderen sieht man nicht!

Allein in Belorussia sind 628 Dörfer von deutschen Strafkommandos ausgelöscht worden, wobei die Dorfbewohner oft in Scheunen, Schulen und Kirchen getrieben und verbrannt worden sind. Sechshundertachtundzwanzig Mal Oradour und Lidice! Und wir kennen nicht einmal einen einzigen Namen dieser belorussischen Dörfer! Jeder vierte Belorusse ist während der deutschen Okkupation getötet, verhungert oder im Kampf gegen die deutschen Faschisten gefallen. Die verbrannten Dörfer waren eine Art Auschwitz für die russische Zivilbevölkerung. Nur, welcher Bundesbürger, ob alt, ob jung, ob konservativ, liberal, links oder alternativ eingestellt, spricht davon? Wer kennt überhaupt die Fakten? Bis heute gibt es in der Bundesrepublik über dieses „andere Auschwitz“ keine Literatur, keine Gedenk- und Dokumentationsstellen, keine Ausstellungen, geschweige denn ein Museum. Gibt es im Bewußtsein der westdeutschen Kriegsgeneration und ihrer Nachkommen vielleicht eine Art Hierarchie die Opfer des Faschismus betreffend, eine stillschweigende Rangordnung, in der die eine Opfergruppe, nämlich die Juden, ganz oben und die anderen Opfergruppen, die Russen und Slawen, noch immer unten rangieren? Wird über den Völkermord an den Juden vielleicht auch deshalb soviel gesprochen, um über den anderen Völkermord, der an Millionen Russen und Slawen verübt worden ist, nicht sprechen zu müssen?