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Verblühende Landschaften

Italiens Adriaküste steht wegen des Balkankrieges vor dem Ruin. Von der EU ist keine Hilfe zu erwarten. Schmuggelgeschäfte und illegaler Handel blühen  ■    Aus Apulien Werner Raith

Pierluigi Rossana steckt den Schlüssel in das Schloß der Einbruchssicherung, löst die mächtige Kette aus der Verankerung im Boden, hievt die schweren Eisenrolläden hoch und läßt uns dann den Vortritt. „Alles Ware, die seit vier Wochen hinüber sollte“, sagt er, „ich sitze auf den Bestellungen, die Wechsel werden fällig, aber nichts geht mehr.“ Das Magazin, sicherlich 600 Quadratmeter groß, ist proppenvoll: Handys, Videogeräte und CD-Player, Fotoapparate und Küchengeräte: alles fein verpackt und mit Adressen beklebt: Belgrad, Krusevac, Nis, Cacak, Sarajevo ...

Pierluigis Großhandel hat bis Mitte März mehr als zwei Dutzend Städte in Jugoslawien, Albanien, Bosnien mit allerlei Gütern der unteren und mittleren Luxusklasse versorgt, „gerade in den aufstrebenden High-Tech-Marktsegmenten“. Dann hat die italienische Regierung alle auf dem Zentralbalkan arbeitenden Landsleute zum Verlassen der mutmaßlichen Kriegsgebiete aufgefordert, „und innerhalb von einer Woche gab es keine einzige unserer Transportlinien mehr.“ Den Schaden beziffert Pierluigi schon jetzt auf mehr als 200.000 Mark.

Nur wenige hundert Meter entfernt wohnt Ercole Di Natoli, auch er ist Zwischenhändler. Er ist noch viel schlimmer betroffen als sein Freund: Er hatte bis März diverse Lebensmittel nach Jugoslawien versandt, Mozzarella-Käse, Mortadella-Wurst, Fleisch von Wasserbüffeln, das sich in letzter Zeit zunehmender Beliebtheit erfreut. Alles ist inzwischen verdorben, die Kontrolleure der Gesundheitspolizei waren „zwar höchst verständnisvoll“, aber als die Verfallszeiten überschritten waren, wurde alles versiegelt und wenig später zur Entsorgung abtransportiert, „die natürlich nun ich bezahlen darf“. Schaden: an die 80.000 Mark pro Woche.

Doch nicht nur die Händler fluchen: Auf einer der vielen Krisenversammlungen, an der Pierluigi und Ercole an diesem Nachmittag in der Nähe von Pescara teilnehmen, treffen sich Geschädigte aus elf Provinzen: Kleidungsfabrikanten und Weinhändler, Autoausstatter und Schuhgroßhändler, Hoteliers und Manager diverser Fluglinien. Der Krieg im Kosovo hat der italienischen Ostküste nahezu den gesamten bisherigen Markt, „das Hinterland jenseits der Adria“, weggenommen. Der Weg über das Meer ist durch die Kriegsschiffe faktisch blockiert, der Luftraum gesperrt, und alternative Routen – etwa auf dem Landweg über Triest nach Kroatien und von dort weiter nach Jugoslawien – sind so umständlich, teuer und unsicher, daß man sie gar nicht erst in Betracht zieht.

Um mehr als 40 Prozent sind nach Auskunft eines Versammlungleiters die Urlaubsbuchungen an der Küste der Emilia Romagna seit Ausbruch des Krieges zurückgegangen – für eine Region, die sich nach dem Desaster der Algenplage Anfang der 90er Jahre gerade wieder einigermaßen erholt hatte, eine neue, für viele Betreiber vielleicht sogar endgültige Katastrophe.

Geschädigt fühlen sich auch weltweit operierende Großfirmen: Benetton aus Treviso etwa, das mit seinem berühmten System des Franchising (der exklusiven Belieferung nominell selbständiger Läden) ein ansehnliches Marktsegment in der Alltagsmode Jugoslawiens und seiner Anrainer errungen hatte, meldet einen absoluten Geschäftsstillstand, und sogar die mächtigen Fiat-Werke, die über ihre auch im Osten ausgebauten Iveco-Werke den Lastwagenmarkt dominieren, müssen immer neue Depotplätze anmieten, weil sie ihre Lieferungen nicht mehr dürchführen können. Auf fast eine Milliarde Mark beziffert einer der Industrie-Abgesandten beim Meeting in Pescara den jährlichen Umsatz italienischer Firmen alleine in Jugoslawien. Im gesamten Balkan kam 1998 sogar das Doppelte zusammen. „Aus! Vorbei! Pleite!“ skandiert ein verzweifelter Redner und charakterisiertdie Situation mit drei knappen Worten. Normalerweise würden die Italiener in solchen Momenten nach der Regierung rufen und den entschlossenen Versuch unternehmen, staatliche Ausfallgelder lokkerzumachen.

Aber die Geschädigten sind sich klar, daß die Regierung allenfalls fromme Versprechen abgeben wird, die sie aber, wie bei allen anderen Katastrophen zuvor, bald schon wieder vergessen wird: „Nach der Algenplage sollten (umgerechnet) 80 Millionen Mark zur Sanierung in die Emilia Romagna kommen – nicht ein Zehntel ist eingetroffen“, rechnet ein grüner Abgeordneter vor, und daß inzwischen noch weniger Geld im Staatssäckel ist als damals, kann er auch schwarz auf weiß belegen. Er empfiehlt, man sollte die Ausfallgelder aus europäischen Töpfen holen.

Das allerdings provoziert erneutes Kopfschütteln bei nahezu allen Teilnehmern: „Anfragen dazu haben wir bereits vor dem Krieg gestellt – die in Brüssel antworten uns nicht einmal“, weiß der Fiat-Mann. Erst nach dem Krieg wollen sie sich „Gedanken machen“, wie ein unvorsichtigerweise nach Unteritalien gereister hoher Beamter aus Brüssel nach einer wilden Beschimpfung durch die Geschädigten zu Protokoll gab, denn „jetzt weiß man doch noch gar nicht, wieviel Schaden insgesamt entsteht, und erst wenn man das weiß, kann man die vorhandenen Mittel verteilen“. Welche Mittel denn? Der hilflose Beamte mußte daraufhin einräumen, daß es auch die leider noch nicht gibt.

Apulien, Veneto und die die Emilia Romagna, bislang waren sie „eine der wichtigsten Korsettstangen der italienischen Wirtschaft“, erklärt der Benetton-Mann, „gerade für unser Land, das innerhalb Europas Mühe hat, sich mit seinen Produkten durchzusetzen, das aber in den östlichen Anrainerstaaten im Grunde genau jenen Markt gefunden hatte, der seine Rolle in Europa definierte: Ausfuhren in der preislichen und qualitativen Mittelklasse, Lieferung von Halbfertigprodukten, Joint-ventures mit Firmen auf dem Balkan für die steigende Konsumbewegung der Region.“ Doch nun, wo dieser Markt weggebrochen ist, stehen viele Firmen „selbst wenn der Krieg noch im Sommer zu Ende gehen sollte, schon heute vor dem Aus“.

Und so nimmt es nicht Wunder, daß der eine oder andere sich nach „neuen, man kann auch sagen unorthodoxen Wegen des Vertriebs“ umsieht. Was unser Mozarella-Händler Pierluigi ein wenig vage in die Runde wirft, und was einen kurzen Moment atemloser Stille provoziert, weil es bislang noch niemand ausgesprochen hat, wird wenige Sekunden danach mit einem geradezu frenetischen Beifall bedacht. Alle haben verstanden, was er mit „unorthodoxen Wegen“ meint: den Eintritt in illegale Märkte, den Versand auf Schmuggel-Linien, den Vertrieb über halbseidene Fimen, die im Zuge des Krieges den Schwarzen Markt betreiben.

„Mit allem, was am Ende daraus folgt“, sagt am Ende der Diskussion ein Iveco-Händler: „zunächst die Steuer- und Zollhinterziehung, bei manchen – etwa in der Computerbranche und bald auch in der Rohstoffversorgung – auch schon der kriminelle Embargobruch; danach die Anhäufung illegaler Kapitalien, denn was geschmuggelt wird, kann nicht in die offizielle Bilanz; danach Geldwäsche mit zunehmender Verbandlung zu kriminellen Organisationen, die sich auf derartige Geschäfte bestens verstehen ...“

Ein Horrorszenario, wie auch Pierluigi und Ercole auf der Heimfahrt nach Bari meinen. „Aber solange die Nato denkt, sie kann den Krieg ausdehnen, bis die Amerikaner endlich ihren Willen haben, sich aber gleichzeitig nicht um das kümmert, was uns passiert – was soll man da anderes machen, als zusehen, wie man eben durchkommt.“

Radio Radicale sendet in diesen Minuten eine Diskussion von Regierungsvertretern mit Verbandssprechern der Händler und Kaufleute. Man wisse ja, sagt der Beamte, daß es da „gewisse Umsatzrückgänge in einigen Gebieten gibt“, aber dann grummelt er weiter: „Denken Sie doch mal daran, wieviel schlechter es den Menschen im Kosovo geht, die alles verloren haben.“ Pierluigi und Ercole nikken. „Stimmt“, kommentieren sie den Ausspruch. „Aber schief ist das doch alles. – Wir sehen uns ja nicht am Verhungern. Aber keiner hat uns gefragt, ob wir diesen Krieg richtig finden, keiner von uns hat diesen Krieg angeordnet, keiner hat ihn gewollt, und es hat uns auch niemand angegriffen. Warum sollen nun ausgerechnet wir bezahlen, und die in Brüssel hocken mit ihren Millionengehältern hinterm Schreibtisch und erteilen uns Lektionen im Aushalten des Elends?“

Es ist die alte Leier. Und wieder einmal sehen sich die Menschen aus Italiens Süden von allen allein gelassen. Sie werden sicher auch diesmal wieder nicht rebellieren, nicht wie die norditalienischen Bauern wegen der Milchquoten mit ihren Traktoren die Autobahnen blockieren. „Aber wir werden abgleiten“, sagt Pierluigi, und es liegt schon einige Trauer in seiner Stimme, „abgleiten in jenen Bereich der Wirtschaft, den der Staat nicht kontrollieren kann, und so bricht, nach Sizilien und Kalabrien, ein weiteres Stück Italien aus der Demokratie und Legalität heraus.“

Wer sie hören will, könnte die Signale natürlich hören. Es gibt aber wenig Anzeichen dafür, daß Rom und Brüssel sie überhaupt hören wollen.

Wir gleiten in jenen Wirtschaftsbereich ab, den der Staat nicht kontrollieren kann. Und so bricht ein weiteres Stück Italien aus der Demokratie heraus.

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