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Veränderte Machtbalance Kann der Westen weg?

Wenn der Westen am demokratischen Rechtsstaat und der offenen Gesellschaft festhalten möchte, muss er sich aus der zunehmenden Illusion seiner Weltbedeutsamkeit zurückziehen.

„Europas Denkmuster hat im 21. Jahrhundert keinen Halt mehr.“ Kunstwerk: Tine Bek, King of the world, Photographic Print, 2022 (Ausschnitt)

taz FUTURZWEI | „Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.“ So unlängst Subrahmanyam Jaishankar, seines Zeichens indischer Außenminister. Das Denkmuster, das Jaishankar zutreffend beschreibt, entstammt dem 19. Jahrhundert, konnte sich durch imperiale und wirtschaftliche Erfolge bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als bestätigt betrachten, hat aber im 21. Jahrhundert keinen Halt mehr in einer veränderten Wirklichkeit. Heute haben sich die Machtbalancen eindeutig zu Ungunsten der lange dominierenden Machtfiguration „Westen“ verschoben, ihres europäischen Teils zumal. Teile der Welt, die Westeuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch „Entwicklungsländer“ nannte, agieren inzwischen als globale Mächte, erwirtschaften ein größeres Bruttoinlandsprodukt als die dem Westen zugerechneten Staaten und repräsentieren einen deutlich größeren Teil der Weltbevölkerung. Europa rückt nicht nur deshalb, wie Albrecht Koschorke in der Zeit formuliert hat, immer mehr an den Rand des Weltgeschehens.

Die US-amerikanische Außenpolitik hat Europa schon seit der ersten Regierung Obama zugunsten des indopazifischen Raums nach hinten sortiert, und obwohl eine neue Präsidentschaft Donald Trumps wahrscheinlich ist, stellt sich der deutsche Bundeskanzler immer noch taub und blind gegenüber dieser Entwicklung. Es gäbe, so ließ er gerade verlauten, ja auch immer mal wieder einen neuen Präsidenten. Wenn man sich allerdings anschaut, wie zielsicher gewählte Autokraten an der Abschaffung der Gewaltenteilung arbeiten und demokratische Institutionen schleifen, sollte man sich da nicht so sicher sein – zumal Trump in seiner zweiten Amtszeit nicht mit Blick auf eine Wiederwahl agieren muss. Und was soll vor dem Hintergrund einer trumpistischen USA aus dem europäischen Restwesten werden, wenn nicht mehr nur in Italien, Ungarn und der Slowakei illiberale Rechte regieren, sondern auch in Frankreich, Finnland oder in den Niederlanden. Oder womöglich gar in Deutschland?

Nostalgische Verklärung einstiger Größe

Um das Szenario noch etwas übler zu machen, wie steht es denn um die neuerdings so oft bemühte „Kriegstüchtigkeit“ eines solchen Restwestens, wenn die USA unter Trump aus dem Unterstützungsbündnis für die Ukraine aussteigen und Putin seinen Angriffskrieg gewinnt, ohne dass eine internationale Sicherheitsarchitektur zu diesem Zeitpunkt existiert? Mir scheinen das zwar böse, aber leider nicht ganz unrealistische Szenarien, die blöderweise auch nicht in einer fernen Zukunft angesiedelt sind, sondern schon in ein paar Monaten eine ganz neue geopolitische Dynamik entfesseln können. Gleichwohl scheint sich weder in den etablierten Parteien noch auf europäischer Ebene dazu viel politische Fantasie zu entfalten.

Die Wirklichkeit fordert etwas ganz anderes vom ‚Westen‘, als die nostalgische Verklärung einstiger Größe.

In Bezug auf die „Kriegstüchtigkeit“ pflegt man eine präpotente Rhetorik; in Bezug auf die Abkehr der USA von Europa betet man vermutlich vor dem Schlafengehen. Und wähnt sich ansonsten im Referenzrahmen einer historischen Bedeutsamkeit, die durch die Wirklichkeit schon lange nicht mehr eingelöst wird. Die Wirklichkeit fordert etwas ganz anderes vom „Westen“ als die nostalgische Verklärung einstiger Größe. In der Tradition der Aufklärung und des Humanismus sollte er sich in etwas ganz anderem üben als in großsprecherischer Rhetorik – im Rückzug nämlich.

Veränderte historische Notwendigkeiten

Hans Magnus Enzensberger hat 1989 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen außergewöhnlichen Essay zu Helden des Rückzugs geschrieben – ein erkenntnisleitender Impuls, darüber nachzudenken, wer denn die eigentlichen Helden der Geschichte sind. Diejenigen, die nach alten nationalstolzen Erzählungen den Tod nicht scheuende Kämpfer, Feldherren, Sieger sind, Gebiete und ganze Länder erobern und Besiegte unterjochen, oder aber diejenigen, die auf den Kampf verzichten, veränderte historische Notwendigkeiten richtig einschätzen und Gewalt und Zerstörung vermeiden?

Enzensbergers Kardinalbeispiel in diesem hellsichtigen Text ist Michael Gorbatschow, dem er schon damals prophezeit, dass er im eigenen Land keine Popularität ernten würde. „Die schiere Aufgabe, die er sich gestellt hat, ist beispiellos. Er ist dabei, das vorletzte monolithische Imperium des zwanzigsten Jahrhunderts zu demontieren, ohne Gewalt, ohne Panik, ohne Krieg. Ob das gelingen kann, steht dahin. Doch hätte noch vor wenigen Monaten niemand das, was er bisher auf diesem Weg erreicht hat, für möglich gehalten. Es hat sehr lange gedauert, bis die Welt auch nur anfing, sein Projekt zu begreifen. Die überlegene Intelligenz, die moralische Kühnheit, die weitreichende Perspektive dieses Mannes – das alles lag, im Osten wie im Westen, so weit jenseits des Horizonts der politischen Klasse, dass keine Regierung wagte, ihn beim Wort zu nehmen.“

Mut, die Richtung zu wechseln

Enzensberger geht es um die grundlegende zivilisatorische Fähigkeit, im Angesicht von nicht fortsetzbaren Entwicklungsrichtungen die Richtung zu wechseln. Das gilt nicht für die Frage von Gewalt und Gewaltverzicht allein, sondern für alle politischen Handlungsfelder, deren Protagonisten allerdings, so Enzensberger, noch „am klassischen Heldenschema bis auf den heutigen Tag ebenso verbissen wie hilflos“ festhalten.

Die aktuelle taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI N°29: Kann der Westen weg?

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Leider gilt dieser Befund auch noch ein Dritteljahrhundert später. Er gilt auch für das verbissene Festhalten an einstigen Erfolgsstrategien, die nicht mehr zu zwischenzeitlich veränderten Lagen und Herausforderungen passen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius ist gewiss kein Held des Rückzugs, sondern ein Kämpfer für eine vergangene Welt. Rückzugspolitiker freilich sind nirgendwo zu sehen. Dabei, so Enzensberger vor 35 Jahren, steht auch den westlichen Demokratien „eine Abrüstung bevor, für die es keinen Präzedenzfall gibt. Der militärische Aspekt ist nur einer unter vielen. Andere unhaltbare Positionen sind im Schuldenkrieg gegen die Dritte Welt zu räumen, und der schwierigste aller Rückzüge steht in jenem Krieg bevor, den wir seit der industriellen Revolution gegen unsere eigene Biosphäre führen“.

Alberne Siegerposen und selbstzufriedene Lügen

Die Fähigkeiten, die man braucht, um diesen überlebensnotwendigen Rückzug einzuleiten, könne man am besten an jenen studieren, die wie Gorbatschow aus der erwartbaren Entwicklungsrichtung ausgeschert sind, obwohl alle gefordert und erwartet haben, dass man „auf Kurs“ bleibe. Erst durch solche „Vorbilder“ wird erlernbar, wie man auf historische Herausforderungen angemessen antworten kann, schreibt Enzensberger. „So kann eine Energie- und Verkehrspolitik, die diesen Namen verdient, nur mit einem strategischen Rückzug eingeleitet werden. Sie erfordert die Zerlegung von Schlüsselindustrien, die auf lange Sicht nicht weniger bedrohlich sind als eine Einheitspartei. Die Zivilcourage, die dazu nötig wäre, steht der kaum nach, die ein kommunistischer Funktionär aufzubringen hat, wenn es darum geht, das Monopol seiner Partei abzuschaffen. Stattdessen übt sich unsere politische Klasse in albernen Siegerposen und selbstzufriedenen Lügen. Sie triumphiert, indem sie mauert, und glaubt der Zukunft durch Aussitzen Herr zu werden. Vom moralischen Imperativ des Verzichts ahnt sie nichts. Die Kunst des Rückzugs ist ihr fremd.“

Der Westen hat aus der Erfahrung seiner Niederlagen nie eine Lerngeschichte des erfolgreichen Rückzugs gemacht.

Dieser Befund gilt auch 35 Jahre später noch, und mehr denn je. Der Westen hat aus der Erfahrung seiner Niederlagen nie eine Lerngeschichte des erfolgreichen Rückzugs gemacht, ja, desto verbissener an seiner imaginierten Mission festgehalten, je weniger sie sich in der globalen Wirklichkeit verwirklicht. Eine solche Täuschung über die eigene Rolle und die eigenen Potenzen kann gerade im Zusammenhang von kriegerischen Auseinandersetzungen äußerst fatal werden, wenn man die eigenen Möglichkeiten über- und die des Gegners unterschätzt. Oder in der selbstfokussierten Betrachtung nicht richtig wahrzunehmen in der Lage ist, wie sich auf der anderen Seite sukzessive die Gewichte zu den eigenen Ungunsten verschieben.

Inflation normativer Begriffe

Natürlich möchte man die Fragilität des westlichen Modells nicht sehen, wenn man die liberale Demokratie schon deshalb für ein Zukunftsmodell hält, weil man selbst Teil von ihm sein möchte. Vielleicht ist gerade deshalb zu beobachten, wie die Fortschrittsansprüche von den Taten in die Worte wandern, eindrucksvoll zu sehen an den Gas-Shoppingtouren von Kanzler und Vizekanzler zu den antidemokratischen Potentaten der Welt und an den antihumanen Flüchtlingsdeals der Präsidentin der Europäischen Kommission, die autoritären Herrschern Geld in die Hand drückt, damit die mit den Flüchtlingen manchen, was sie wollen. Dies alles bei gleichzeitiger verbaler Hochrüstung in Sachen „wertebasierter“, „regelbasierter“, gar „feministischer Außenpolitik“.

Je weniger etwas Wünschenswertes in der Wirklichkeit realisiert ist, desto größer wird der verbale Aufwand: Deshalb ist so viel von „europäischen Werten“, von „Wertegemeinschaft“, „Verantwortung“ und „Menschenrechten“ die Rede. Man folgt dem weniger denn je, man versichert sich gegenseitig nur mit der Inflation normativer Begriffe, dass man noch irgendetwas Werthaltiges mitzuteilen und zu bestellen hätte.

Veränderte Machtbalance

Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es nur Folklore bliebe – wie Trachtengruppen, die Vergangenheiten aufführen, die es nie gegeben hat. Es ist aber dann verhängnisvoll, wenn daraus Wahrnehmungen, Schlussfolgerungen und Handlungen resultieren, die irregeleitet sind – also etwa die eigene Stärke, die eigene Bündnisfähigkeit, die eigene Wirtschaftskraft, die eigenen Handlungsmöglichkeiten überschätzen lassen. Eine bayrische Lebensweisheit lautet „Nur mit vollen Hosen ist gut stinken“, und gerade absteigende Nationen oder Staatenbündnisse tun sehr gut daran, ihr Selbstbild gelegentlich zu prüfen und, wo nötig, tieferzulegen.

„Nur mit vollen Hosen ist gut stinken“

– Bayerische Lebensweisheit

Wenn man am zivilisatorischen Projekt des demokratischen Rechtsstaats und der offenen Gesellschaft festhalten möchte, muss man sich über die veränderte Machtbalance und die eigene Rolle darin Rechenschaft ablegen und den bewussten Rückzug aus der Weltbedeutsamkeit planen. Und damit gleich mal den größten Fehler des Westens hinter sich lassen: den missionarischen Anspruch, den Rest der Welt von der Brillanz und Überlegenheit des westlichen Gesellschaftsmodells überzeugen zu wollen. Diese Mission ist offenbar gescheitert; es wäre daher umso wichtiger, die innere Verfasstheit der offenen Gesellschaft zu verteidigen. Genau das heißt aber etwas anderes, als sich an alten Selbstbildern festzutackern. Um ein etwas abgenutztes literarisches Zitat zu verwenden: Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.

Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI.

Dieser Beitrag ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°29 erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI gibt es jetzt im taz Shop.