: Vaters Personalpronomen
„Es hätte schlimmer kommen können. Wenigstens war er nicht dick“: Der Schriftsteller Nicol Ljubic erzählt in seinem Debütroman „Mathildas Himmel“ von dem Versuch einer jungen Frau, der Grammatik der Kleinfamilie zu entkommen
Mathilda wird 18. Ihr Vater schenkt ihr ein Auto und eröffnet ihr außerdem, dass er nicht ihr leiblicher Vater und ihre Mutter nicht ihre leibliche Mutter ist. Mathilda packt am nächsten Tag ein paar Sachen zusammen, setzt sich in ihr neues Auto und fährt nach Hamburg. Sie mietet ein Zimmer, jobbt in einer Kneipe und als Werbezettelverteilerin, versucht sich gar als Prostituierte, fährt von Hamburg aus mit ihrer Freundin Julia durch halb Europa – und kommt schließlich genau vier Wochen später zurück zu ihren falschen Eltern.
Nicol Ljubic hat aus dieser übersichtlichen Folge von Ereignissen einen Roman gemacht, sein Debüt. „Mathildas Himmel“ ist in einer Sprache geschrieben, die auf verblüffende, manchmal verstörende Weise zwischen Empathie und Gefühlskälte schwankt. „Der Mann hatte fleischige Lippen, die sie nicht küssen würde.“ Mit dieser Feststellung beginnt Mathildas Ausflug in die Welt der Prostitution: „Knochig war er, Mathilda spürte sein Becken … Er fragte, ob sie neu sei. Sie nickte. Er war keine Schönheit, aber auch nicht hässlich. Es hätte schlimmer kommen können. Wenigstens war er nicht dick.“
Wenigstens! Gewalt, Demütigung, Verstörung kündigen sich bei Ljubic nicht mit Theaterdonner an. Sie geschehen einfach. Mathilda, die zuweilen bestürzend brutal sein kann, nimmt sie die meiste Zeit so gleichgültig hin, als sei ihr Gefühlsleben an einem bestimmten Punkt einfach lahm gelegt worden. Man darf diesen Punkt in ihrer eisig behüteten Kindheit vermuten: „Anfangs, in der Grundschule, hatte Mathilda ihrer Mutter zum Geburtstag noch Kärtchen zum Aufklappen gebastelt mit Bildern, für die sie stundenlang kleine Furchen ins Linoleum geschabt hatte, aber die Kärtchen lagerten jahrelang in irgendeiner Schublade, und wenn ihre Mutter Karten zum Verschicken brauchte, kaufte sie ganze Stapel vom Kinderhilfswerk, weil die, wie sie sagte, so schön bemalt waren. Mathildas Kärtchen wurden immer liebloser, und irgendwann fing sie an, nach praktischen Geschenken zu suchen.
Von da an bekam ihre Mutter Kochschürzen und Topflappen zum Geburtstag und er Rasierschaum oder Unterwäsche.“
Er, das ist der übermächtige und kontrollsüchtige (Adoptiv-) Vater, der während der ganzen Erzählung so präsent ist, dass er immer nur in der Form eines Personalpronomens auftaucht. Als Mathilda nach den vier Wochen zurück nach Hause kommt, hat „er“ einen Schlaganfall erlitten.
Die Mutter versucht nicht nur, ihr die Schuld an dem Unglück zuzuschieben, sie hat auch im Namen Mathildas Briefe an ihren kranken Mann geschrieben. Die Illusion einer funktionierenden Familie soll trotz der Abwesenheit der Tochter gewahrt bleiben.
So gelungen die Idee ist, Mathilda ihre kaum abgeschlossene Kindheit gleichsam im Rückspiegel ihres neuen Autos betrachten zu lassen: Ljubic verlässt sich zu sehr auf Rückblenden, die den Lesefluss hemmen. Außerdem gibt es leichte perspektivische Unsicherheiten (vor allem wenn Julia, Mathildas beste Freundin, ins Spiel kommt), und zum Teil sind die Figuren überzeichnet: So lesen Mathildas Eltern ausschließlich Konsalik-Romane, als sei die kleinbürgerliche Welt nicht schon deutlich genug gezeichnet.
Man nimmt diese Ungeschicklichkeiten mit einem leichten Bedauern wahr, liest aber natürlich weiter. Man möchte wissen, wie es ausgeht mit Mathilda – und erfährt zuletzt doch nur, dass Mathilda ihr Elternhaus noch einmal verlässt, diesmal vielleicht für immer. Vielleicht. Am Ende ist alles offen, wie der Himmel, der dem Roman seinen Titel gegeben hat.
MARCUS HAMMERSCHMITT
Nicol Ljubic: „Mathildas Himmel“.Eichborn, Frankfurt am Main 2002.163 Seiten, 16,90 €
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