Vaterliebe und das Elend der Töchter

■ Töchter-Probleme während des 5.Frauentheaterfestivals in Tübingen

Cri-Cri, komm schnell, beeil dich, bevor du ganz naß wirst!“ Der Vater hält schützend den Regenschirm über seine 20jährige Tochter Christine, damit sie auf dem Weg zum Hotelzimmer nicht naß wird. „Schreckliches Licht!“ Der Vater läuft von einer Lampe zur anderen, knipst an, aus. „Na also, sieht doch gut aus für 18 Dollar!“ Er schaltet den Fernseher an, eine Männerstimme sagt: „Ich warte auf dich, bis du erwachsen bist.“ Der Vater reißt die Fastfood-Tüte auf, holt die Styroporschachteln mit den Hühnchen und den Fritten heraus. Die Tochter soll sich stärken, „das war Mamas größte Sorge, daß du nicht richtig ißt“. Aber die Tochter ißt nicht. Sie sitzt immer noch auf dem Bett, blaß, apathisch, und kaut Fingernägel. „Iß doch ein Hähnchen statt deiner Fingernägel!“ Widerwillig nimmt sie das Plastikbesteck und säbelt an dem Huhn, das Messer bricht, sie hält das Hühnerbein angeekelt von sich weg, zündet sich dann eine Zigarette an.

Vaterliebe heißt das Stück, das im Rahmen des 5.Frauentheaterfestivals in Tübingen von der Landesbühne Eßlingen gezeigt wurde. Das ist insofern bemerkenswert, als hier zum ersten Mal der Versuch gemacht wird, den Anteil der Väter am Leiden der Töchter aufzuarbeiten; in den meisten anderen Stücken ging es um Mutter-Tochter-Konflikte (etwa in Töchter der Kindheit vom ACT theater nürnberg oder in Sprung in der Schüssel von den Bremer Schnürschuh -Theaterfrauen). Mit dem Vater, das ist so eine Sache, schließlich: „Wie läßt sich Abwesenheit, die Abwesenheit des Vaters, darstellen?“ fragte (sich) Regisseurin und Schauspielerin Irmgard Paulis in einer Diskussion. Die Kanadierin Marie Laberge hat es jedenfalls in ihrem Stück Vaterliebe versucht. Ein 75minütiger Fast-Monolog des Vaters ist daraus geworden, von Brigitte Dethier in der deutschen Erstaufführung mit Rudolf Schulz und Chris Nonnast auf die Bühne gebracht.

Die Ausgangssituation: Der Vater holt die Tochter von dem gewalttätigen Ehemann weg - „Niemals werde ich es zulassen, daß ein Kerl dich schlägt, und wenn du dich nicht selbst wehrst, werde ich es tun.“ Auf halbem Weg übernachtet er mit ihr in einem Hotel, um ihre Situation in Ruhe durchzusprechen. Dummerweise sagt die Tochter nichts, sondern sitzt in ihrem Mantel, „verfroren wie deine Mutter“, auf dem Bett, und je weniger sie auf seine Gesprächsversuche reagiert, desto mehr redet der Vater. „Sehr gesprächig bist du ja nicht gerade. Mama ist da nie in Verlegenheit, da entsteht keine Pause, ihr tut's gut, und mich stört's auch nicht mehr.“ Es wird immer deutlicher, daß die Verstörung Christines, die anfangs von ihrer Ehe herzurühren schien, ihre Wurzeln woanders hat: in der Normalität eines (bundesdeutschen) Familienlebens.

Der Vater merkt nicht, wie sehr er mit seinen mahnenden, sorgenden, leisen und lauten Sätzen die Tochter bedrängt, wie sehr er sie zuschüttet und ihr keinen Raum läßt für eine eigene oder gar andere Meinung. Ihre Reaktion: Verweigerung

-von Nahrung, von Gespräch. Das sieht wie Trotz aus und weckt Aggressionen, nicht nur im Vater, auch in vielen ZuschauerInnen.

Warum springt Christine nicht endlich auf, warum wehrt sie sich nicht? Statt dessen läuft sie immer wieder ins Bad und übergibt sich. Der Vater: „Ich hab‘ noch nie jemand mit einem so schwachen Magen gesehen wie dich.“ Immer noch hat er das Bild von ihr im Kopf, als sie „ein kleiner, reiner Engel“ war von elf Jahren, „bevor du so abgenommen hast“, so sehr, daß sie ins Krankenhaus mußte.

Die Symptome ergeben ein typisches Krankheitsbild, 90 Prozent der Betroffenen sind junge Frauen. Die Krankheit, während des Stücks nicht beim Namen genannt, heißt Magersucht, der Monolog des Vaters könnte aus Gesprächsprotokollen einer psychoanalytischen Praxis zusammengesetzt sein. Aber warum trifft es gerade die jungen Frauen, was macht sie so krank, daß sie schwere organische und psychische Schäden davontragen können oder sogar daran sterben? Ist Magersucht ein Mutter-Tochter- oder ein Vater -Tochter-Problem, ein Problem der Geschlechterbeziehungen oder Rollenzuweisungen?

„D i c k d ü n n d i c k d ü n n d ü n n“, skandieren die Bremer Schnürschuh-Frauen, und die verrückte Maria sagt: „Ich will's nicht mehr schlucken!“ Die Teufelin im Stück Frau-Teufel-Glück von der türkischen feministischen Theatergruppe „Schwarze Hexe“ aus Hamburg drängt die Frauen zum Widerstand gegen eine für sie schlechte Realität. Aber die Teufelin scheint in Christine schon nicht mehr zu existieren. „Papa, bin ich eine arge Belastung für dich?“ Das ist fast der einzige Satz, den Christine von sich gibt, als beide schließlich im Bett liegen. Der Vater antwortet, sie solle nicht so stottern, dann „würdest du auch ein bißchen intelligenter aussehen“. Er weiß, wie was zu sein hat - „Wenn ich jemanden im Geschäft einstellen muß, dann kommt es auf den ersten Eindruck an.“ Er stellt lieber Frauen ein als Männer, weil sie seine Autorität anerkennen. Aber Frauen entziehen sich auf andere Weise - in vielen Fällen richten sie ihre Aggressionen nach innen. Aus den Worten des Vaters geht hervor, daß seine Mutter alkoholsüchtig war, die Ehefrau tablettenabhängig ist - und die Tochter magersüchtig. Wo sind die Frauen in den Familien, mit denen sich heranwachsende Mädchen identifizieren können, ohne Teile von sich aufzugeben?

„Nichts im Kopf als Bügeln, Bügeln, muß alles glatt sein, glatt, glatt und nochmals glatt.“ Die Nürnberger Töchter bringen das mütterliche Gespenst um, die Bremer Maria erwürgt stellvertretend die von der Mutter gebügelte Bluse („(...), die Papa immer so gern an dir gesehen hat!“), Christine, für den Vater immer noch das Baby Cri-Cri, bringt ihn um, als er ihren Selbstmord verhindern will.

Wie gut das Schwachmachen funktioniert, zeigte auch Renate Killmann mit ihrem Tanztheaterstück So hast du mich zurückgekehrt über Camille Claudel und Auguste Rodin. „Ich bin nicht mehr wert als Scheiße“, schreit Karen Finley in ihrer Performance We keep our victims ready, während sie sich mit brauner Schokolade beschmiert.

Beeindruckend auf den diesjährigen Frauentheatertagen in Tübingen, die gerade zu Ende gegangen sind: die Stärke ihrer Darstellungen von der Schwäche der Frauen.

Katrin Steglitz