: Variationen auf Frankenstein
■ Im Spermienwahn: „Fräulein Danzer“ und „Monsterdämmerung“ von Marius von Mayenburg als Lesung im Schauspielhaus
Hans Lützke ist ein ganz normaler Familienvater. Er säuft, schlägt und versteht die Menschen nicht, die an seinem Leben etwas auszusetzen haben. Von dieser Sorte gibt es aber welche, und die haben ihm und seiner Frau die Drillinge weggenommen, Lotte, Franz und Fred, liebe Kinder, die gern mit toten Tieren spielen. Sozialarbeiterin Hilde Danzer soll's nun richten. Ein Jahr zusammen mit Familie Lützke unter einem Dach – und es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn die Familie danach nicht glücklich zusammenlebt. Fräulein Danzer hat zunächst Erfolg: Sie lehrt Familie Lützke Kommunikation. Doch Gemeinschaft verlangt Opfer.
Im Einakter Fräulein Danzer von Marius von Mayenburg bekommt die Sozialarbeiterin am Ende so gründlich ihr Mäulchen mit Hühnerschenkeln gestopft, bis ihr für immer der Atem stockt. Daß die Texte des jungen Mayenburg (Jahrgang 1972) auch zur Lesung taugen, haben Autor und Akteure des Deutschen Schauspielhauses am Sonnabend bewiesen. Der überschäumende Humor, der rasche Wechsel von Alltags- und Kunstsprache, die schwankenden Stimmungen von Pathos und Larmoyanz: Mit den Worten im Ohr saß man auf Lützkes Couch.
Mayenburg ist bereits jetzt eine Art Familien-Spezialist. Auch in seinem mehrfach ausgezeichneten Feuergesicht, das Thomas Ostermeier im Malersaal inszeniert (Premiere: 15. April), steht die Familie auf dem Spiel. Während sie sich bei Fräulein Danzer durch Vernichtung des Fremdkörpers zusammenfindet, geht sie im Feuergesicht im wahrsten Sinne des Wortes in Flammen auf.
„Man muß über etwas schreiben, was man kennt“, sagt Mayenburg. „Familie – das kennt jeder. Da muß man nicht viel erklären. Außerdem habe ich den Eindruck, daß unsere Gesellschaft darauf ausgerichtet ist, Dramen zu verhindern. Da fragt man immer gleich: Warum geht die nicht zur Polizei? In Familien stellt sich diese Frage nicht.“
Jedenfalls nicht immer. Wenn in dem Einakter Monsterdämmerung Dr. Schrumpf mit einem Koffer voller Arme und Beine nach Hause kommt, überlegt seine Frau Mathilde schon, ob sie die Polizei oder die Irrenanstalt anrufen soll. Monsterdämmerung ist eine Variation auf Frankenstein. Hier geht es nicht um Familienauslöschung, sondern um Familiengründung. Dr. Schrumpf will um jeden Preis „seine Gene in die Welt katapultieren“, und da er es leid ist, über „blutige Tampons zu philosophieren“, entschließt er sich, einen künstlichen Sohn zu basteln.
Mayenburgs Stücke begeistern, weil er für jede Figur eine eigene Sprache findet. Die Situationen, in denen sie aufeindandertreffen, sind zwar konstruiert, aber immer klar. „Meisterlich“, schwärmte Rainhald Goetz. Mayenburg selbst sagt: „Ich versuche, so zu schreiben, wie ich es selbst gerne auf der Bühne sehen möchte.“ Man kann davon ausgehen: Mehr als sechs Personen suchen einen solchen Autor. Joachim Dicks
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen