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■ Vargas Llosa erhielt gestern den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Wir dokumentieren seine RedeDas Verschwinden des Bürgers

Ich glaube, daß die Literatur sich auf die Probleme ihrer Zeit einlassen und daß der Schriftsteller mit der Überzeugung schreiben muß, sein Schreiben könne den anderen helfen, freier, sensibler und hellsichtiger zu werden. Aber ich bin weit davon entfernt zu behaupten, daß das gesellschaftliche und moralische „Engagement“ des Intellektuellen die richtige Wahl, die Verteidigung der besten Option garantiert, einer Option, die dazu beiträgt, die Gewalt einzudämmen, die Ungerechtigkeit zu vermindern und die Freiheit zu fördern. Ich habe mich zu oft geirrt und erlebt, wie viele Schriftsteller, die ich bewunderte, sich irrten und zuweilen ihr Talent und ihr Genie in den Dienst der ideologischen Lüge und des staatlichen Verbrechens stellten, um mir Illusionen zu machen.

Woran ich allerdings fest glaube, ist, daß die Literatur, ohne auf Unterhaltung zu verzichten, bis an den Hals in das Leben der Straße, in die Erfahrung der Allgemeinheit, in die werdende Geschichte eintauchen muß, wie sie es in ihren besten Zeiten getan hat. Denn auf diese Weise kann der Schriftsteller ohne Arroganz, ohne den Anspruch auf Allwissenheit zu erheben, als jemand, der das Risiko des Irrtums eingeht, seinen Zeitgenossen einen Dienst erweisen und seinen Beruf vor der Inkonsistenz retten, der er zuweilen anheimzufallen scheint.

Wenn es nur darum geht zu unterhalten, dem Menschen zu einigen angenehmen Augenblicken zu verhelfen, ihn im Sog der Unwirklichkeit, befreit von der Schäbigkeit des Alltags, der Hölle des Familienlebens oder der Angst um seine wirtschaftliche Situation in einen entsprechenden Zustand geistiger Trägheit zu versetzen, dann können die Fiktionen der Literatur nicht mit denen der Leinwand oder des Bildschirms konkurrieren. Illusionen, die aus Worten gemacht sind, erfordern eine aktive Beteiligung des Lesers, eine Anstrengung der Vorstellungskraft und bisweilen, wenn es sich um moderne Literatur handelt, komplizierte Operationen, die ein gutes Gedächtnis und assoziative und kreative Fähigkeiten verlangen, etwas, das die Bilder des Kinos und des Fernsehens den Zuschauern ersparen. Diese werden – teilweise aus eben diesem Grund – immer träger und reagieren zunehmend allergisch auf eine Unterhaltung, die sie geistig fordert.

Ich sage dies, ohne den geringsten kriegerischen Gedanken gegen die audiovisuellen Medien zu hegen, als jemand, der sich bereitwillig als Kinosüchtiger zu erkennen gibt – ich sehe zwei oder drei Filme pro Woche – und der auch ein gutes Fernsehprogramm zu genießen vermag, diesen seltenen Glücksfall. Aber eben deshalb mit der genügenden Sachkenntnis, um zu behaupten, daß sämtliche guten Filme, die ich in meinem Leben mit dem größten Vergnügen gesehen habe, mir nicht im entferntesten geholfen haben, das Labyrinth der menschlichen Psyche zu verstehen, wie es die Romane Dostojewskis taten, oder die Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens zu begreifen, wie es Tolstois „Krieg und Frieden“ tat, oder zu ermessen, welche Abgründe an Erbärmlichkeit und Gipfel der Größe im Menschen koexistieren können, wie es mich die literarischen Sagas eines Thomas Mann, eins Faulkner, eines Kafka, eines Joyce oder eines Proust lehrten. Die Fiktionen der Bilderwelt sind intensiv durch ihre Unmittelbarkeit und vergänglich, was ihre Resultate betrifft; sie nehmen uns gefangen und setzen uns fast augenblicklich wieder frei; die Fiktionen der Literatur halten uns ein Leben lang gefangen.

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Der Fortschritt der Technologie, der Kommunikationsmittel hat die Grenzen zum Verschwinden gebracht und das Weltdorf geschaffen, in dem wir alle endlich Zeitgenossen der Aktualität sind, Wesen, die in wechselseitiger Verbindung stehen. Das müssen wir natürlich begrüßen. Die Möglichkeiten der Information – zu wissen, was geschieht, es in Bildern zu erleben, mitten in der Nachricht zu sein – haben sich, dank der audiovisuellen Revolution, sehr viel weiter entwickelt als etwa ein Jules Verne oder ein H. G. Wells mit ihren großen Zukunftsentwürfen ahnen konnten. Und doch leben wir, obwohl umfassend informiert, in größerer Distanz zum Weltgeschehen als früher, tritt uns dieses gleichsam verfremdet entgegen. Nicht in dem Sinne verfremdet, wie Bertolt Brecht das Bühnengeschehen präsentierte: Um die Vernunft des Zuschauers zu erziehen und ihm zu einem moralischen und politischen Bewußtsein zu verhelfen, damit er in der Lage wäre, das Geschehen auf der Bühne vom Geschehen auf der Straße zu unterscheiden. Nein, die unglaubliche Geschwindigkeit und Wendigkeit, mit der die audiovisuelle Information uns heute auf die Schauplätze des Geschehens aller fünf Kontinente versetzt, hat den Fernsehbenutzer in einen bloßen Zuschauer verwandelt und die Welt in ein riesiges Theater. Die audiovisuelle Information, flüchtig, vergänglich, spektakulär, oberflächlich, läßt uns die Geschichte als Fiktion wahrnehmen, indem sie uns durch das Verbergen der Ursachen, Mechanismen, Zusammenhänge und Entwicklungen dieser Ereignisse, die sie uns so lebendig präsentiert, von ihr distanziert, sie „verfremdet“.

Diese Form der Darstellung bewirkt, daß wir uns ebenso machtlos fühlen, das zu ändern, was vor unseren Augen auf dem Bildschirm vorbeizieht, wie das Geschehen in einem Film. Sie verurteilt uns zu jenem Zustand passiver Empfänglichkeit, moralischer Atonie und psychologischer Anomie, in denen uns die Produkte oder Programme des Massenkonsums versetzen, die kein anderes Ziel haben, als zu unterhalten.

Dieser Zustand ist natürlich völlig legitim und hat seine Reize: Wir alle flüchten gern aus der objektiven Wirklichkeit in die Arme der Phantasie; auch dies war von Anfang an eine der Funktionen der Literatur. Wenn aber die Gegenwart unwirklich, die wirkliche Geschichte in Fiktion verwandelt wird, dann wird dem Bürger das Motiv zum Handeln genommen, dann fühlt er sich aus der staatsbürgerlichen Verantwortung entlassen, dann glaubt er, er habe nicht die Möglichkeit, in eine Geschichte einzugreifen, deren Drehbuch bereits irreversibel geschrieben, durchgespielt und verfilmt ist. Auf diesem Weg können wir uns auf eine Welt ohne Bürger zubewegen, eine Welt von Zuschauern, eine Welt, die zwar demokratische Formen besitzt, aber sich in die lethargische Gesellschaft resignierter Männer und Frauen verwandelt haben wird, auf die es die Diktaturen abgesehen haben. Mario Vargas Llosa

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