: VONHORSTGRABERT
Die neue Hauptstadt
Am 9. November 1918 um 14 Uhr rief Philipp Scheidemann von der Rampe des Reichstagsgebäudes die »Deutsche Republik« aus. Nur zwei Stunden später, um 16 Uhr, wurde wieder etwas ausgerufen. Diesmal im Kaiserlichen Schloß, und der Name war etwas länger; Karl Liebknecht proklamierte die »Freie Sozialistische Republik Deutschland«.
Die Nationalversammlung tagte nach der Wahl am 19.1.1919 in Weimar, denn bei den Unruhen in Berlin war der Reichstag ausgeplündert und verwüstet worden. Gegen die Wahl Weimars als Tagungsort der Nationalversammlung protestierte der Berliner Magistrat heftig. Er erhielt am 25.1.1919 von der Reichsregierung eine schriftliche Versicherung, »daß ihr jeder Gedanke fern gelegen habe, Berlins Stellung als Hauptstadt zu erschüttern. Auch in Zukunft käme Berlin allein als Hauptstadt des Reichs in Betracht«. Ab dem 30. September 1919 war der Reichstag wieder in Berlin. Der Ausflug des Parlaments in die »Provinz« dauerte damals neun Monate; das nächste Mal fehlte es der Stadt über ein halbes Jahrhundert. Die neun Monate wurden überbrückt, zumal die Menschen mit der Demokratie nichts Richtiges anzufangen wußten. Das Wort Bismarcks von dem Parlament als Quasselbude und der Selbstbetrug mit der Dolchstoßlegende bestimmten das Verhalten der Bürger, die Sozialisten sangen: »Demokratie, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel!«
Und doch ist dies die Zeit der ersten länger andauernden Demokratieübung in Deutschland gewesen. Nicht von der Mehrheit gestützt und bedrängt von dem Bedarf an Kontinuität mit dem alten Reich.
Jetzt wird Berlin die Bundeshauptstadt. Nicht mehr die Spitze des »Reichs« gilt es in der Stadt zu beherbergen, sondern die Repräsentation eines völlig anderen Landes. Nicht Kontinuität, sondern Neubeginn ist erforderlich. Um es an einem Beispiel zu sagen, die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland benötigt keine »Via Triumphalis« für Paraden und Fackelzüge. Die alte Prachtstraße durch den Tiergarten und Unter den Linden gehört unterbrochen durch einen Fußgängerbereich zwischen dem Großen Stern und dem Brandenburger Tor.
Aber machen wir uns nichts vor, Neubeginn setzt Klarheit über das Vergangene voraus. Und Vergangenes ist dabei nicht nur die DDR. Auch der andere Teil des geteilten Landes gehört dazu, genauso wie die Zeit, die zur Teilung des Landes führte. Wer einen Neubeginn wagen will, muß die Geschichte kennen und darf sie nicht verdrängen wollen. So gesehen hat das künftige Berliner Stadtparlament nichts im alten preußischen Landtag zu suchen. Daß der Bundespräsident in das alte Kronprinzenpalais einzieht, geht wohl in Ordnung; der Bundskanzler wäre dort absolut fehl am Platze. Das Auswärtige Amt gehört nicht wieder in die Wilhelmstraße 74-76, und gegenüber, Wilhelmstraße 61a, wäre kein geeigneter Ort für das Presseamt, denn dort residierte das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda des Herrn Goebbels.
Die neue Hauptstadt muß zusammenführen und nicht vergessen machen. Abrisse sind nur hilflose Siegerposen, die meistens später von verklärendem Gestrüpp überrankt werden. So sollte der Bundesrat in das alte Staatsratsgebäude einziehen und es mit neuem Leben erfüllen, mit dem Leben des deutschen Bundesstaates, der demokratischen Föderalismus lebt. Diesmal braucht Deutschland eine Hauptstadt, in der die alten Spaltungen, die des Jahres 1919 und die der Jahre nach 1948, überwunden, Risse geheilt und nicht verkleistert werden.
Bei alldem muß das vereinte Land ohne Feinde auskommen. Kein Widerpart zwingt uns zur Einigkeit, und wir sollten auch keinen Gegner herbeireden, weder Ausländer noch sonstwen. Die neue Rolle Deutschlands ist der Ausgleich in Europa, zugegeben ungewohnt. Das ist mehr als die Herstellung gleicher Lebensbedingungen im ganzen Land, so wichtig dies auch ist. Das ist auch mehr als eine Verkehrsplanung, so dringend diese auch sein mag. Für diese neue Aufgabe ist eine Hauptstadt einzurichten. Für nicht mehr, aber auch für nicht weniger.
Horst Grabert (SPD) war Chef des Kanzleramtes unter Willy Brandt, Berliner Bundessenator und Botschafter in Wien, Dublin und Belgrad. In der Stadtmitte schreiben Persönlichkeiten über Probleme der zusammenwachsenden Hauptstadt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen