: VOGELFREI
■ Reso Gabriadses Puppentheater aus Tiflis
Vorspiel auf dem Puppentheater: Nur die schönen und konzentrierten Gesichter der beiden ganz in schwarzen Samt gekleideten Puppenspieler leuchten sanft aus der Dunkelheit. Obwohl von ihnen angezogen, kann man doch kaum den Blick bei ihnen halten, denn direkt vor ihnen zappeln zwei winzige Puppen. Dem gerupften Vogel mit der riesigen Klappe und dem alten müden Leierkastenmann gehört unsere Aufmerksamkeit. Daß es die beiden schweigenden und fast bewegungslos erscheinenden Menschen sind, die den Puppen ihre feingliedrige Agilität verleihen, ist ein ein kaum glaubhaftes Wunder, obwohl es sich doch direkt vor unseren Augen ereignet. Was dort auf der Puppenbühne geschieht, scheint eine direkte Projektion der träumenden Gesichter der Spielenden.
In diesem Vorspiel wird eine große Bescheidenheit und Zurücknahme der Personen der Spieler hinter ihre Geschöpfe ausgedrückt. Diese aber können sich alles erlauben, und was ein Schauspieler nach den dramatischen Regeln zu tun und zu lassen hat, ist für sie bedeutungslos. Nur die Phantasie setzt ihnen Grenzen. Wenn am Ende des Vorspiels die Hand der Puppenspielerin eine Blume auf den soeben gestorbenen Leierkastenmann legt, dann ist dies auch eine um Verzeihung bittende Geste, weil ja ihre Hand ihn gerade hat sterben lassen. Der Spieler bezeugt Respekt vor den Puppen und verspricht, seine Macht nicht zu mißbrauchen.
Seit fünf Jahren besteht Reso Gabridses Puppentheater in Tiflis, das sich aber seiner Mittel so sicher bedient, als könnte es auf eine lange Tradition zurückgreifen. Aber wenn auch die im Märchen und Puppentheater unentbehrliche Großmutter, ihr liederlicher Kaspar hier in Gestalt des adoptierten Vogel Borja und der Miliz-Offizier in der klassischen Konstellation auftreten, so nistet doch kein Stäubchen der Antiquiertheit in den Fältchen der Kostüme. Die ständige dramatische Aktion läßt keinen Moment der holzgeschnittenen Starre aufkommen.
Das Bühnenbild gleicht einem Chagallischen Kosmos. Es fehlt nicht die Stube für die arme Großmutter und die Eisenbahnstation für ihren Einsatz am Aufbau des Sozialismus; das Häuschen steht für die liederlichen Affären Borjas gleich neben der zu beraubenden Bank aus der Zeit vergoldeter Dekadenz; und der Friedhof nimmt das traurige Ende vorweg. Erzählt wird von dem losen Vogel Borja, der aus Not und Lebenslust die kommunale Bank beraubt - doch die Spione der Miliz sind allgegenwärtig (ein riesiger wandernder Kochtopf hätte schon längst Verdacht erwecken müssen), und die Sache geht nicht gut aus. Borja, der, getreu dem Image der Georgier, säuft und singt und selbst das Gericht zu mehrstimmigem Gesang verführt, hält kurz vor seinem Ende eine mahnende Rede an die Menschen, der auf seinen krummen Beinen in den Wald ging, den Fasan erschoß und sich anmaßte, über das Leben anderer zu entscheiden.
Die traurige Ballade vom Niedergang des frechen Vogels wird zum Appell gegen den Hochmut, anderen ihre Lebensform zu diktieren - sei der andere Vogel oder Mensch.
Katrin Bettina Müller
Das Staatliche Puppentehater Tbilissi UdSSR von Reso Gabridse spielt nur noch heute um 20 Uhr in der Vagantenbühne Herbst unseres Frühlings (ein Puppenwestern).
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