: VISUELLER ABKLATSCH
■ Feuerland und Hindukusch, Borneo und die Balearen. Wer will, kann in vier Wochen zwei Weltreisen absolvieren. Auf der Leinwand.
Feuerland und Hindukusch, Borneo und die Balearen. Wer will, kann in vier Wochen zwei Weltreisen absolvieren. Auf der Leinwand.
VONKARLANTON&VORORTH
Das Licht geht aus, und das Murmeln verstummt. Im Saal wird es dunkel, auf der Leinwand hell. Musik setzt ein und dann die „Diapanoramavision Finnland“.
Der Herr in Strickjacke und mit präziser Bügelfalte, der vorne steht und die Bilder kommentiert, ist Jörg Trobitzsch, Fotograf, Verfasser mehrerer „Abenteuer-Almanache“, Reisender in Sachen „Urlaubsziele“ und Pionier auf dem Gebiet der Breitwanddiavorträge. Vor zwölf Jahren hatte er als erster mit einer „Multivisionsshow“ über skandinavische Länder begonnen. Günter Baumgart kam dann dazu, und Helfried Weyer, der heute mit „Terravision“ durch die Lande zieht: hundert Quadratmeter Leinwand, 400-Watt-Projektoren, „Tibet“, „Galapagos“.
Fünfundzwanzigmal hatte Trobitzsch den großen Saal des Hamburger Congress-Centrums mit „Norwegen“-Begeisterten gefüllt, damals, zu Beginn der achtziger Jahre, glorreiche Zeiten waren das gewesen, auch einträgliche. Heute abend sind knapp 200 ZuschauerInnen gekommen. Konzentriert werden sie die nächsten eineinhalb Stunden hochsehen zu der acht Meter breiten Leinwand, die dauernd bunt gefüllt ist, die, immer wieder anders aufgeteilt, Fotos reflektiert. Die Bilder wechseln in raschem Rhythmus, wo eben noch ein harter Kontrast schockte, wird im nächsten Augenblick schon wieder milchig überblendet. Sonne und Wasser in diversen Licht- und Formenvariationen, Menschen-, Städte-, Tier- und Landschaftsbilder lösen einander in gnadenloser Folge ab, Bilder werden zum Ornament, die Zuschauer, wollen sie nichts verpassen — und sie wollen keinesfalls —, hetzen mit und sind zur Aufmerksamkeit verdammt. Kein Handlungsfaden erleichtert ihnen die Orientierung, es liegt an ihnen, den Anschluß nicht zu verlieren. Aufmerksamkeit herrscht, nicht aber so etwas wie Spannung.
Die versprochene Live-Atmosphäre des Auftritts beschränkt sich darauf, daß Jörg Trobitzsch tatsächlich in ein Mikrophon spricht, so routiniert und flüssig wie schon einige hundert Male zuvor, vom Band werden lediglich kleine Musikstücke eingespielt. Welche und wie viele Sätze er jedem Bild zuordnet, kann er nicht etwa nach Belieben entscheiden. Die Computersteuerung lenkt den Ablauf präzise. Wie viele Sekunden ein Bild präsentiert wird, ist von vornherein festgelegt. Ausgeschlossen, daß ein Foto zurückgeholt wird. Raum für Improvisation, Fragen oder Gespräche ist nicht vorgesehen. „Live“ erweist sich als leblos, den ganzen Abend wird nichts Unerwartetes passieren. Die Technik dominiert.
Lange sind sie unter sich geblieben, die Senioren des Gewerbes. Erstaunlich genug, bei einer Rechnung, wie sie beispielsweise Helmut Pohl aufmacht, der seit einem Jahr mit „Schottland“ unterwegs ist: Kosten in Höhe von 500 Mark pro Abend — Saalmiete, Plakate, Reisespesen —, 200 zahlende ZuschauerInnen, pro Kopf acht oder zehn Mark Eintritt, bleiben 1.500 Mark vor Steuern. 50.000 Mark bei 36 Vorträgen im Jahr.
26.000 Mark hat ihn seine Erstausstattung gekostet: Zwei Leinwände, fünf Projektoren, Steuergerät, Verstärker, Mischpult, Boxen, Kassettenrecorder, Mikrophon, Kabel und Vorführtisch. Jörg Trobitzsch reist mit einer Ausrüstung im Wert von rund 80.000 Mark, und mit weniger, meint er, kommt auch gar nicht aus, wer erfolgreich eine Tournee starten wolle. Der Geschäftsführer einer schwäbischen Elektronikfirma wiederum sieht sich durchaus imstande, für 7.000 Mark dem Newcomer eine einfache Vortragsgrundausstattung zusammenzustellen.
Immerhin: Ganz ohne Startkapital geht nichts, und so setzen viele der Anfänger ihre Hoffnungen auf den großzügigen Sponsor. Bei Fotofirmen und Outdoorausrüstern türmen sich die Bittschreiben. Etwa fünfzig Anfragen pro Jahr verzeichnet Rollei, Kodak in Stuttgart gleich ein paar hundert. Minolta ist vom einstigen Gießkannen-Förderprinzip abgekommen und beschränkt sich auf ein paar wenige Fotografen, denen sie „mal Leihgeräte, mal 2.000 Mark für Plakate und Eintrittskarten“ zukommen lassen. Leica verleiht das Prädikat „Leicavision“ und sucht unter denen aus, die schon mit Kameras und Projektoren des Hauses arbeiten.
Gesättigter Markt
Mittlerweile reisen etwa siebzig „Präsentatoren“ durch die Bundesrepublik, nicht miteingerechnet all die lokalen Abenteuergrößen, die in Gemeindehaus und Volkshochschule das heimische Publikum mit den Ergebnissen ihres eifrigen Knipsens erfreuen. Sie organisieren ihre eigenen Tourneen oder lassen sich von Fremdenverkehrsämtern, Reisebüros und Buchhändlern weiterreichen. Wer Glück und einen Namen hat, darf auf den Tourismusbörsen als Appetitmacher fungieren oder wird von großen Industrieunternehmen für das hauseigene Kulturangebot eingekauft.
Längst ist der Markt gesättigt. Allein in einer Stadt wie Braunschweig konnten jüngst innerhalb einer Woche neun Veranstaltungen dieser Art verbucht werden. Mancherorts lassen sich im Verlauf von vier Wochen ohne weiteres zwei Weltreisen in unterschiedlichen Etappen auf der Leinwand absolvieren. Da folgt Toledo auf den Hindukusch, Mecklenburg schließt an Rio an, der Wilde Westen konkurriert mit dem Fernen Osten. Auf Bauwänden und Telefonkästen wird heftig plakatiert und gegenseitig abgefetzt. Nippon überlappt das Dach der Welt, die Osterinseln verdrängen Jütland, und manchmal hängen Südseepalmen und polare Eismassen friedlich nebeneinander.
Die Großen im Geschäft verfolgen diese Inflation mit wenig Begeisterung und sorgen sich um die Zukunft der bis dahin recht lukrativen Branche. Burghardt Pieske, Weltumsegler, Buchautor und Vortragsreisender, der von der Bühne aus seine stummen Filme kommentiert: „Die meisten von den Neuen sind in ein, zwei Jahren wieder draußen. Das ist wie eine Welle, die jetzt langsam an den Strand schwappt. überleben wird nur, wer einen Namen hat und sich in PR auskennt.“ „Viele von denen“, ergänzt Trobitzsch, „die jetzt unterwegs sind, überschätzen die Technik und investieren ihre Energien nicht in den Vortrag, sondern in die Plakate. Die Bilder können dann nicht mithalten, die Vorträge kommen häufig vom Band, und der Zuschauer, dem so etwas einmal angetan wurde, bleibt natürlich beim nächsten Mal zu Hause.“
Zurück in den Saal. Dort sind die Zuschauer mittlerweile nach einer Tour de Force durch finnische Geschichte und Nationalcharakter mitten in den Naturschauspielen gelandet. Seen, Wälder und Sonne satt, zu allen Jahreszeiten, in allen Farbvariationen. Ein visueller Appetithappen löst da den anderen ab. Der Eindruck, dem Umblättern eines überdimensionierten Reisekatalogs beizuwohnen, wird übermächtig. Alles ist gelackt, glatt, gleich schön. Bilder, Bilder, Bilder kleistern die Wahrnehmung zu. Nicht etwa als ein in sich widersprüchliches Land wie jedes andere auch erscheint Finnland heute abend hier, sondern — wie sollte es anders sein — als „Land mit vielen Gesichtern“, ein „tolles Reiseziel“, versteht sich.
Sehnsucht nach Abenteuer
Das Publikum ist wenig gemischt. Eine Handvoll jener wettergegerbten „Outdoor-Pepole“ der Globetrottergeneration von morgen, die ihr Fachwissen erweitern wollen, hauptsächlich aber Frauen und Männer im mittleren Alter, unauffällig in Erscheinung, Kleidung und Auftreten. Was bewegt sie, Veranstaltungen zu besuchen, die in der Wohnzimmerversion als die Inkarnation deutscher Langeweile überhaupt gelten? Was erwarten sie hier? Abenteuer natürlich. Burghardt Pieske ist sich da sicher. „Wir leben von den Träumen. Von den Träumen, die sich das Publikum macht. Wir sind die Stellvertreter. Wir nehmen die Abenteuer für sie wahr, die sie selbst nie machen werden. Die Sehnsucht nach dem Abenteuer, die erklärt unseren Erfolg, aber auch den eines Heinz Sielmann oder des Weltenbummlers Hardy Krüger.“
Es gibt eine Beliebtheitsskala der Themen und auch eine wechselnde Konjunktur. Norwegen, Kanada, die nordamerikanischen Nationalparks, Neuseeland und Australien „gehen immer“, vor zwei Jahren waren Atlantiküberquerungen der große Renner. Wild muß das Land sein, ursprünglich zumindest in der Vorstellung, die in den Köpfen darüber vorherrscht, und das sollte als Reiseziel in Frage kommen. „Türkei“, vor einem Jahr noch für volle Säle gut, interessiert seit dem Golfkrieg niemanden mehr. „Dänemark? — Da fährt man hin. Aber da gibt es doch nichts, was man sich auf der Leinwand ansehen möchte. „Finnland“ gilt auch als „schwierig“.
Im Saale endlich bricht es aus, das Abenteuer. Wenig spektakulär und atemberaubend allerdings, so gar nicht mit Todesmut und Lebensgefahr verbunden und nicht einmal außerhalb des Vorstellungsvermögens der zuschauenden Damen und Herren angesiedelt. Hier werden keine Sensationen à la Messner und Nehberg präsentiert. Trobitzsch ist, so lehrt die Erfahrung, einer der wenigen in seiner Branche, der es nicht darauf anlegt, seine Moskitos als Elefanten zu verkaufen.
Da angeln er und seine Frau Lachse im Lemmenjoki, fangen nichts, aber besaufen sich mit jungen Finnen. Sie reisen zu den letzten Goldgräbern Lapplands und besuchen eine Samenfamilie im Sommerlager. Begegnungen und Erlebnisse sind das, die jedem Touristen dort — beinahe — auch passieren könnten. Abenteuer? Aber sicher, das Abenteuer „next door“, greifbar nah an der Urlaubswirklichkeit, und das gefällt den Leuten nicht schlecht. Was den 70-Kilometer-Fußmarsch auf dem „Bärenpfad“ angeht, durch lappische Sümpfe, eingehüllt in eine Wolke von Mücken, so macht niemand von den Anwesenden im Saal den Eindruck, als ob er ihn zu den Lebenserfahrungen zählte, die noch zu machen er strikt entschlossen wäre. Es genügt, sich ein bißchen zu schütteln, zu gruseln. Und es beruhigt zu erfahren, daß die Straßen in Lappland sehr gut ausgebaut sind.
Als „domestizierte Grenzüberschreitung“ wertet Christoph Köck in seinem Buch Sehnsucht Abenteuer den Abenteuer-Tourismus, als Ausdruck „kollektiver Wunschvorstellungen und Sehnsuchtsbilder“. Letztendlich diene er nur der Kanalisierung der nie so ganz zu zähmenden Sehnsüchte nach „Wildheit, Ruhe, Einfachheit, Unkultiviertheit und Kollektivität“.
Diese Sehnsüchte aber sind allen gemeinsam: Was für den Trekker in Katmandu und den Rafter auf dem Skeena River gilt, trifft auf den Dia-Betrachter im Saal allemal zu. Draufgängertum und Fernweh, aber auch Zwang, Mut und Mittel, sie auszuleben, sind bei den Bewohnern des industrialisierten Mitteleuropas am Ende des 20. Jahrhunderts lediglich unterschiedlich verteilt. Den meisten genügt es, mal zu schnuppern, wie es „dort draußen“ zugeht. Der visuelle Abklatsch reicht ihnen vollkommen aus. Allzu viel versäumen sie nicht. Abenteuer ist schließlich nicht mehr das, was es einmal war.
Wichtig, überlebenswichtig ist der Mythos „Abenteuer“ lediglich für die Erlebnisindustrie, dieses Geschäft wie jedes andere, in dem sich nur behauptet, wer auch investiert. Trobitzsch, Pieske und der Münchner Afrika-Spezialist Michael Martin werben neuerdings als Power- pack auf schwarzem Hochglanz. „Eis — Wüste — Wasser. Die Abenteurer kommen“. Doch Pieske geht schon weiter: 3.000 ZuschauerInnen verfolgten am 4. Mai, wie er in Kirchdorf (Mecklenburg) ein nachgebautes Wikingerschiff zu Wasser ließ, mit dem er im Juli auf den Spuren Erich des Roten über Island und Grönland nach Neufundland segeln wird. Im Troß fährt ein Begleitschiff, von dem aus eine fünfteilige Fernsehserie über das Unternehmen gedreht wird. 1,2 Millionen Mark soll das Projekt kosten, mit dem der Lübecker ganz auf der Höhe der Zeit liegt: kein Profi-Globetrotter kann es sich heute noch leisten, seine Ziele nach Lust und Laune auszuwählen. Er muß Nischen finden, Marktchancen abwägen. Die Spannung und den unverzichtbaren Nervenkitzel inszeniert er lieber gleich selbst, beklagenswertes Opfer der Konkurrenz, das er geworden ist.
Im Saal geht das Licht an, die Luft ist verbraucht, das Land der tausend Seen entschwunden. Der Redner, der freundlichen Beifall erhält, signiert nunmehr Bücher. Gemütlich war es, trocken, warm und lehrreich. Und sehr bunt.
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