piwik no script img

Urteil nach VerfassungschutzexzessBespitzelung war unzulässig

URTEIL Neue Klatsche für den Bundesverfassungsschutz: Das Berliner Verwaltungsgericht hat die jahrelangen Observationen von sechs Berliner Linken für rechtswidrig erklärt

Der Verfassungsschutz darf nicht alles - allerdings muss man ihm das immer wieder sagen. Bild: dpa

Es gab nichts, was die Ermittler nicht interessierte: Jochen U. beim Einkaufen, auf Arbeit in der Biobäckerei, beim Inspizieren von Sperrmüll im Hof. Mails, Anrufe, Briefe fischten sie ab. Vor U.s Tür versteckten sie eine Kamera, sein Auto tauschten sie mit einem baugleichen Modell aus, um einen Sender anzubringen.

Von 1998 bis 2006 ging das so. Der Verfassungsschutz war sicher: Jochen U. und fünf weitere ausgespähte Berliner Linke gehören zur linksextremen „militanten gruppe“. Die verübte ab 2001 Brandanschläge auf Polizeiautos und Sozialämter, Politikern schickte sie Patronenhülsen. Nur: Der Verdacht ließ sich nie erhärten. 2010 erklärte der Bundesgerichtshof (BGH) die Observationen für „rechtswidrig“: Ein „ausreichender Tatverdacht“ habe nie vorgelegen.

Am Donnerstag sitzt U., 63 Jahre, Ringelpullover, kurze graue Haare, vorm Berliner Verwaltungsgericht – als Kläger gegen den Bundesverfassungsschutz. Bewertete der BGH das konkrete Strafverfahren, geht es diesmal um die Behörde selbst – und die Frage, ob sie mit den Abhörmaßnahmen grundsätzlich ihre Kompetenzen überschritt.

Und das Gericht beschert den Staatsschützern die nächste Klatsche: Auch die fünf Richter werten die Observationen als rechtswidrig. Für die Maßnahmen hätten „von Anfang an keine gesetzlichen Voraussetzungen“ vorgelegen, urteilen sie. Es sei nicht ausreichend begründet worden, warum die Anschläge nicht ohne die schweren Grundrechtseingriffe aufgeklärt werden konnten. Auch habe der Verfassungsschutz „tatsächliche Anhaltspunkte“ für die Zugehörigkeit der Beschatteten zur „militanten gruppe“ nie geliefert. Im Gegenteil: Selbst „Nichttelefonieren“ habe das Amt nicht als entlastend, sondern in „unzutreffender Weise“ als verdächtig gewertet, weil im Zweifel konspirativ.

Zuvor hatte der Verfassungsschutz, vertreten durch den Rechtsprofessor Heinrich Wolff, die Observationen verteidigt. Es sei Pflicht der Staatsschützer gewesen, nach den schweren Anschlägen alle Spuren zu verfolgen, so Wolff. Die Beschatteten seien langjährig in der linken Szene aktiv gewesen, hätten in Polittexten Wortgruppen benutzt, die auch in Bekennerschreiben der „militanten gruppe“ auftauchten. Und Jochen U. soll als „Antonio“ an einem „Runden Tisch der Militanten“ über Brandsätze gesprochen haben.

U.s Anwalt Volker Gerloff nennt das „abenteuerliche Konstruktionen“. Dass U. „Antonio“ sei, habe man nie nachgewiesen. Dennoch seien die Bäckerei, bei der U. arbeitete und selbst Mandantengespräche zwischen U. und ihm abgehört worden. „Über Jahre und ohne belastbaren Anhaltspunkt. Das ist skandalös.“

Für den Verfassungsschutz ist das Urteil eine weitere Schmach im Fall „militante gruppe“. Jahrelang hatte die Behörde keine Ahnung, wer hinter den Bränden steckte. Erst 2007 schnappte sie drei Männer bei einer Brandstiftung, 2009 wurden sie zu Haftstrafen ab drei Jahren verurteilt.

Mit Jochen U. wurde dagegen jahrelang der Falsche beschattet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts kommentiert der 63-Jährige mit Genugtuung. Es sei ihm nicht um Revanche gegangen, sondern darum, dem Verfassungsschutz zu zeigen, „dass er nicht alles machen kann, was er will“. Die Sache sei ja eine Posse, findet U. – wäre sie nicht so ernst. Denn während das Amt exzessiv gegen links ermittelte, hätten Nazis unbemerkt gemordet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

6 Kommentare

 / 
  • L
    Lenny

    So lange solch Urteile und solche Verhaltensweisen keinerlei Konsequenzen für die Verantworlich mit sich bringen, juckt das die Behörden genauso viel, wie der berühmte Sack Reis in China.

  • W
    Weinberg

    Ob jetzt die Richter des Berliner Verwaltungsgerichts vom "Verfassungsschutz" observiert werden?

  • JB
    Jan B.

    Die größte Gefahr für unsere Verfassung geht vom Verfassungsschutz selber aus.

     

    Die Politik dreht aber weiterhin Däumchen und ist zu feige zu handeln.

  • D
    Desconocido

    Es war also Rechtswiedrig. Schön.

    Und was ändert sich jetzt? Richtig, garnichts.

    Solche Urteile stören nicht einmal viele Polizisten, welche die selben, offensichtlich rechtswiedrigen, Taten immer wieder machen. Glauben Sie allen ernstes den Verfassungsschutz stören heute noch solche Urteile? Die werden beim nächsten Mal wieder genau so handeln und Argumentieren. Soll der Bürger doch erstmal Klagen, ob er Recht bekommt ist ja noch nicht sicher, es dauert Jahre und es klagen sowieso die wenigsten. Ach ja, selbst wenn ein Fall, wie jetzt passiert, verloren geht gibt es für den einzelnen Beamten sowieso keine nennenswerten Konsequenzen.

    Nein einen Rechtsstaat haben wir in dieser Beziehung erst dann wieder, wenn man die einzelnen Entscheidungsträger in diesern Behörden für Ihre Taten auch zur Verantwortung zieht.

  • A
    aurorua

    Der Auftrag fuer derart unrechtmaessige Totalobservationen kommt ja letztlich aus der Politik, welche wiederum dem Kapital und der Wirtschaft voellig hoerig ist. Klar das Reiche und Superreiche panische Angst vor vemeintlich sozial gerechten Gruppierungen wie der LINKEN haben und deshalb ihre Politmarionetten via BVS beauftragen gegen solche Personenkreise vorzugehen.

    Wuerde man diesen Aufwand an Personal, Hi-Tec und Zeit auf Steuerzahlers kosten gegen Steuersuender und Betrueger insbesondere im Gesundheitswesen richten, kaemen jaehrlich wenigstens 150 bis 200 Milliarden EURO zusaetzlich in die Kassen. Aber die Hand die einen fuettert u.a. mit Posten und Poestchen die beisst der Politclown natuerlich nicht.

  • S
    sanglier

    Wer überwacht denn den VS?

    Es kann ja nicht angehen, dass blinde Schlappüte acht Jahre in diesem Fall ihr Unwesen treiben, genauer rechsts- und verfassungsbrüchig werden, ohne dass entsprechende Kontrollgremien dies hinterfragen können. Fehlt es denen an Kompetenz oder wollen die gar nicht?