Urlaub im U-Bahn-Tunnel

Gesichter der Großstadt: Der neunundfünfzigjährige Kaufmann Klaus-Martin Kersten steht als Weltrekordler im U-Bahn-Fahren im Buch der Rekorde  ■ Von Kirsten Niemann

Wenn Klaus-Martin Kersten und seine Gattin Hannelore für den alljährlichen Sommerurlaub die Koffer packen, können sie die Sonnenmilch getrost zu Hause lassen. Hautkrebs und Sonnenbrand haben bei ihnen keine Chance, denn seit mehr als 17 Jahren verbringt das Schöneberger Ehepaar die Ferien vorzugsweise unter der Erde, um neue U-Bahn-Netze kennenzulernen. Von den weltweit 84 U-Bahnen (Kersten: „Es waren mal 86, aber zwei wurden mittlerweile wiedereingestellt“) hat der 59jährige bislang 62 Netze abgefahren. „Ich bin natürlich an jeder Station ausgestiegen und hab' oben einmal rausgeguckt!“ Das erfreuliche Ergebnis seines jahrelangen Streckensammelns: Seit mehr als zehn Jahren steht der Kaufmann für Trendartikel im Guinnessbuch der Rekorde.

„Als original Berliner Kind und Großstädter habe ich mich schon immer für öffentliche Verkehrsmittel interessiert“, versucht Kersten seine Faszination plausibel zu machen. Die U-Bahn ist sein Steckenpferd. Nichts ist ihm lieber, als über die verschiedenen Netze zu parlieren – außer damit zu fahren. Sein Sachverstand beeindruckte schließlich auch die Fernsehleute vom „Großen Preis“, der versilberte „Wum“ steht immer noch als Trophäe auf seinem Schreibtisch. Dreimal hintereinander trat er im Jahr 1976 als Kandidat bei Wim Thoelke auf, mit dem Spezialgebiet „Die Geschichte der Berliner U-Bahn“. Auch machte er diverse Vorschläge für eine Verbesserung der BVG – allerdings vergebens. So habe er schon lange vor dem übertragbaren Umweltticket ein sogenanntes Ehegattenticket in doppelter Ausführung empfohlen. Auch die Idee eines „City-Metro- Busses“ für jeden Bezirk, der bloß als Zubringerbus zu den nächsten U-Bahn-Stationen verkehren sollte, wurde nicht erhört.

Bald reichte Berlin nicht mehr, und Kersten dehnte sein Interesse an Tunnelschienen aus. Der erste U-Bahn-bedingte Urlaub führte ihn und seine Gattin 1980 nach London. „Ein überaus faszinierendes Netz!“ schwärmt der Mann noch heute von den Fahrten in der „Tube“. Begeistert zeigte er sich auch von den Bahnen in Osaka, Buenos Aires und Tokio. Die U-Bahn von Philadelphia, deren Linienplan übrigens sein Büro verschönert, halten die Kerstens dagegen für „total verpißt“. Gattin Hannelores gut gemeinter Vorschlag an die dortigen Verkehrseigner: Ein Schild mit der Aufschrift: „If you pee, we cut your tail – or 30 days in jail!“ Klaus-Martin Kersten ist mittlerweile nicht nur der Berliner U-Bahn-Belegschaft bekannt. Um die 465 Bahnhöfe des New Yorker Netzes in einer Rekordzeit von nur drei wochen zu absolvieren – und auch bezahlen – zu können, haben die New Yorker Subway-Betreiber dem Ehepaar ein Gratisticket für die Dauer ihres Urlaubs überlassen. Mit den meisten Verkehrsbetrieben auf der Welt pflegt er begierig zu kommunizieren und ist daher auch auf dem laufenden, wenn an irgendeinem Flecken des Erdballs eine neue Linie eröffnet oder eine alte verändert wird. „Schauen Sie“, entzückt zeigt er auf ein sorgfältig abgeheftetes Fax-Papier aus Los Angeles, „am 15. Juli 1996 haben sie eine Linie nach Hollywood verlängert, und 1998 gibt es die nächste Verlängerung.“

Alle Fakten und Daten werden pingelig in den Computer eingetippt, ausgedruckt und obendrein noch abgeheftet. Die Unterlagen zeigen dabei nicht nur den gegenwärtigen Zustand aller Netze. Für ebenso bemerkenswert hält der Sammler die Art, wie sich die verschiedenen Linien kreuzen, nämlich ob über- oder nebeneinander. Auch über den historischen Ablauf, in welche Richtungen die Linien wuchsen, wird präzise Buch geführt. Eintragungen über stillgelegte Stationen und Umbenennungen sind ebenfalls von Belang. Mit Datumsangabe, versteht sich.

Mit den Devotionalien, die ihm sein weltweiter Subway-Tourismus eingebracht hat, könnt Klaus- Martin Kersten längst ein Museum füllen. Und genau das wäre auch sein Traum: hier in Berlin einen – natürlich unterirdischen – Ausstellungsort für all die Schaffneruniformen, Briefmarken- und Fahrkartensammlungen und Pläne zu finden. Gerne zeigt er seinen Gästen alle erhaltenen Gastgeschenke, wie die schwenkbare Signalleuchte aus Tokio, die Kaffeetassen aus Buenos Aires, all die Metroschilder und Kugelschreiber. Von den U-Bahn-Direktionen in Boston, Kiew und Yew York hat er sogar ganze Waggons bekommen, die bloß aus Platzgründen noch nicht nach Berlin überführt wurden. „Der U-Bahnhof Warschauer Straße wird leider erst in 12 Jahren frei“, bedauert Kersten. „Den hat man mir schon angeboten.“ 12 Jahre, in denen er die 22 U-Bahn-Systeme erkundet haben dürfte, die ihm noch fehlen. Als da wären Athen, Kairo, Pjöngjang ...