Ureinwohner in Kanada: „Kultureller Völkermord“

Jahrzehntelang steckte Kanada mehr als 150.000 Kinder von Ureinwohnern in Zwangsinternate. 6.000 starben, viele leiden an den Folgen.

Ein Mann und ein Mädchen im Profil

Der Ex-Premier der Nortwestern Territories, Stephen Kakfwi, mit seiner Entkeltochter bei der Anhörung der Ergebnisse der Wahrheitskommision in der Hauptstadt Ottawa. Foto: reuters

EDMONTON taz | Dorothy Alpine erinnert sich mit Schrecken an ihre Kindheit. Alpine war sechs Jahre alt, als sie zum ersten Mal in der Schule geschlagen wurde. „Ich hatte mir gerade in der Küche ein Butterbrot geschmiert, als die Nonne hereinkam, mich böse angestarrt und mir eine Ohrfeige verpasst hat. Einfach so, ohne Grund“, erinnert sich Alpine.

Danach war es für Dorthy Alpine mit der kindlichen Unschuld vorbei. Auf die Ohrfeige folgten immer mehr, und das Leben im Internat in der westkanadischen Stadt Cranbrook wurde für die junge Ktunaxa-Indianerin zum Horror: „Es war so traumatisch für mich, dass ich vor lauter Angst zur Bettnässerin geworden bin.“

Mehr als sechzig Jahre ist das mittlerweile her, doch die 69-Jährige kämpft bis heute mit den körperlichen und psychischen Folgen. Wie ihr geht es vielen Ureinwohnern in Kanada, die vom Staat über Jahrzehnte zwangsweise in eigens dafür eingerichtete Indianerinternate eingewiesen und dort systematisch erniedrigt, geschlagen und misshandelt wurden.

Das Ziel dieser Politik: Die Ureinwohner sollten ihrer Kultur beraubt und in der weißen Gesellschaft assimiliert werden. Vor einiger Zeit hat Alpine ihre Geschichte der Wahrheits- und Versöhnungskommission erzählt, die von der kanadischen Regierung damit beauftragt worden war, die Zustände in den Internatsschulen zu dokumentieren. Die Kommission führte dazu über sechs Jahre hinweg über 6.000 Interviews – am Dienstag nun wurden die Ergebnisse vorgestellt.

Quälereien, Erniedrigungen, Einsamkeit

Der Abschlussbericht legt eines der dunkelsten Kapitel der kanadischen Geschichte schonungslos offen. Laut Kommission mussten zwischen 1883 und 1996 mehr als 150.000 Ureinwohnerkinder die Zwangsinternate besuchen, die vom Staat eingerichtet und finanziert und von den Kirchen betrieben wurden. 6.000 Kinder kehrten nicht zurück. Sie starben an den Folgen der Quälereien, der Erniedrigungen oder der Einsamkeit.

Der Kommissionsvorsitzende, Justice Murray Sinclair, sprach bei der Vorstellung des Berichts von einem „kulturellen Völkermord“, eine Einschätzung, die sich auch Kanadas oberste Richterin Beverly McLachlin wenige Tage zuvor zu eigen gemacht hatte. Ziel der kanadischen Politik sei es lange gewesen, „den Indianer im Kind“ zu töten und das „sogenannte Indianerproblem“ ein für alle Mal zu beseitigen, so McLachlin.

Tatsächlich listet der Bericht horrende Zustände auf. So gehörten sexueller Missbrauch und physische Gewalt in vielen Internaten zu Alltag. Knapp 32.000 ehemalige Schüler wurden wegen dieser Gewalttaten entschädigt, 6.000 Anträge werden noch bearbeitet. Knapp drei Milliarden Dollar hat die Regierung bislang an die Opfer ausgezahlt.

Kontakt zu den Eltern unerwünscht

In den Schulen waren die eigenen Sprachen verboten, ebenso kulturelle Bräuche und Feiern. Kontakt zu den Eltern oder anderen Familienmitgliedern war unerwünscht. Die meisten Kinder durften nur einmal im Monat Besuch bekommen – wenn überhaupt. Viele wuchsen ohne ihre leibliche Familien auf. Manchmal wurde den Kindern medizinische Hilfe verweigert, um die Taten zu vertuschen.

Nicht wenige Ureinwohner nahmen sie sich später aus Scham und Angst über den Missbrauch das Leben. „Jeden Tag wurde uns eingetrichtert, wie schlecht wir sind, und nach einer Weile haben wir es tatsächlich geglaubt“, berichtet auch Dorothy Alpine. Es ist eine Gewaltspirale, die bis heute nachwirkt: In vielen Indianergemeinden Kanadas gibt es mehr Selbstmorde, Verbrechen und Drogenprobleme als im Rest des Landes.

Die kanadische Regierung hatte sich vor sieben Jahren in einer Erklärung zu ihrer historischen Verantwortung bekannt und sich für die Vorfälle entschuldigt. Von einem „kulturellen Genozid“ aber hat die Regierung bislang nicht gesprochen.

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