piwik no script img

■ Urdrüs wahre KolumneWichsen und wachsen

Hin- und her- und her- und hingetrieben bin ich angesichts der heutigen Grandprix-Vorentscheidung über die Alternativen meines eigenen Abstimmungsverhaltens beim Fernseh-TED: Soll man als Lokalpatriot für Corinna May votieren? In alter Liebe die Kelly Family wählen oder in Dicken-Solidarität für Joy „Erna“ Fleming entscheiden? Das sind so die Schwierigkeiten, aus denen die Zerrissenheit des modernen Menschen resultiert. Und so gebietet mir schließlich die innere Stimme „Augen zu und durch!“: And the winner shall be Corinna May, die vom Abstimmungs-Schicksal so arg gebeutelte Bremerin, deren einst disqualifiziertes „Hör den Kindern einfach zu“ fraglos zum reinsten Gold des Deutschen Schlagers gehört.

Der macht für mich immer noch den Blues des weißen Mannes in diesem Lande aus! Anschließend schreibt Ralph Siegel darüber (gern mit mir!) ein Musical unter dem Titel „Grand Prix“ als Aschenputtel-Geschichte mit dem Sieg Corinnas in Estland. Und schon haben wir den Blockbuster, mit dem das Theater am Richtweg auf Jahre lukrative Tränenflüsse initiieren wird – mit special guests wie Ronny, Ted Herold, Marianne Rosenberg und Nena.

Dem Kollegen Robin Euro möchte ich die TAZ Bremen-Folge 9 seiner Cent-Fuchser-Kolumne um die Ohren hauen, in der er sich über die Preisexplosion für Autofelgenwäsche empört. Leute, die ihr Blech in Waschanlagen rollen, um es dort wichsen und wachsen zu lassen: Was haben sie zu tun mit dem Bild des wahren und freien, des würdevollen und souveränen Menschen, der ja wohl im Traum nicht auf den Gedanken kommen kann, seine Karre zu waschen oder gar waschen zu lassen? Sollen 'se diesen Fehlinterpretationen des Homo Sapiens doch 100 Euro pro Berieselung abknöpfen: Dann bleibt ihnen nicht mehr so viel pekuniäre Manövriermasse für die sonstigen Entgleisungen ihres charakterlosen Alltags! Leute, die ihr Auto in die Waschanlage bringen – sie fahren eben mal übers Wochenende zum Skifahren nach Südtirol, sind am Ende auch noch Bayern München-Fans und murmeln höchstens „Tut mir leid“, wenn sie bei ihren Spritztouren liebenswerte Igel oder die ach so raren Feldhasen plattmachen. Kost' ja nur einen neuen Waschgang!

Wenig anfangen kann ich mit der Bitte eines langjährigen Stammlesers dieser Zeilen, „mal etwas über die bei Jugendlichen verbreitete Unsitte zu sagen, auch bei Minustemperaturen die sauteuren wattierten Jacken offen zu tragen“. Andererseits verstehe ich die im Alter zunehmende Neigung nur zu gut, der jungen Generation sagen zu wollen, wo es langgeht. Lieber Albert! Wollen wir Senioren der Bewegung unser überlegenes Wissen nicht eher zur positiven Verstärkung eindeutig richtiger Verhaltensweisen nutzen? In diesem Sinne allen aktuellen Hausbesetzern weiterhin gutes Gelingen: Wenn am Ende vielleicht auch die Kräfte fehlen, so ist doch schon der Wille zur rebellischen Tat zu loben!

Wenn Willi Lemke schon härter gegen Schulschwänzer vorgehen will, sollte er als Ex-Werder-Manager wenigstens eine Ausnahmeklausel für grün-weiße Auswärtsspiele am Freitag installieren: Wie will man es denn sonst den treuen Hardcore-Fans auf den billigen Plätzen ermöglichen, die Mannschaft in der Fremde wirkungsvoll zu unterstützen? Man muss doch jede politische Absichtserklärung in die übergeordneten Zusammenhänge stellen!

Antifaschistische Störer werden landauf, landab aktiv, wenn irgendwo eine Filiale der Schill-Partei aufmacht. Da ich aber aus gut unterrichteten Kreisen weiß, dass es sich bei der Gründungswelle um den grandiosen Versuch aus Kreisen dadaistisch orientierter Altenpfleger handelt, grenzdebilen Querulanten und Intriganten eine vergleichsweise unproblematische Spielwiese zum Ausleben ihrer Emotionalität zu geben, bitte ich doch sehr darum, dieses geronto-therapeutische Experiment nicht schon im Ansatz zu zerschlagen. Ein bisschen Protest muss sein, damit sich die herzigen Damen und Herren mit und ohne künstlichem Darmausgang ernstgenommen fühlen – aber bitte nicht gleich im Stil einer überbordend-unspezifischen Reiztherapie. Und der Bremer FDP ist zu danken, dass sie die AFB-Konkursmasse übernehmen will: Irgend jemand muss sich doch ein bisschen kümmern um den verstörten Rest. So viel sozialen Gemeinsinn hätte ich von Claus Jäger & Co nie erwartet!

Im friedensbewegten Milieu des Martin Luther-Gemeindehauses in Findorff wollen die militanten Pazifaxe Ernst Busche und Eva Böller morgen ihren gemeinsamen 120. Geburtstag feiern: Hätte man natürlich aus Gründen der Zeitökonomie auch gleich mit dem diesjährigen Os-termarsch zusammen legen können, meint in tiefem Respekt vor diesem antimilitaristischem Zweierbündnis von Berufsdemonstranten.

Ulrich „Friedbert“ Reineking

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen