Uraufführung im Schauspielhaus Zürich: Im Boxring des unerwünschten Wissens

Alle wehren sich gegen die Erinnerung: Lars-Ole Walburg hat ein Stück des Dramatikers Lukas Bärfuss über den Umgang mit der Geschichte als Farce inszeniert.

Tony, der plötzlich Wissende, wird umstellt. Bild: Tanja Dorendorf / Schauspielhaus Zürich

Mit einem Zufall beginnt „20.000 Seiten“, ein neues Stück von Lukas Bärfuss. Tony steigt in eine Mulde, seine Freundin Lisa hat ihn noch gewarnt, schon fällt ihm ein Umzugskarton mit fünfundzwanzig Büchern auf den Kopf. 20.000 Seiten eines Berichts über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg - die nun samt und sonders, auf Paragraf und Zeile genau in seinem Kopf gespeichert sind.

Lukas Bärfuss ist ein Moralist, das ist nichts Neues. Seine Texte werfen jeweils die großen, grundsätzlichen Fragen auf: Wie habt ihrs mit der Sterbehilfe (“Alices Reise in die Schweiz“), was bedeutet Entwicklungszusammenarbeit (“Hundert Tage“), wie steht es um die Sexualität Behinderter (“Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“).

Jetzt wendet er sich der Erinnerungskultur zu, dem Umgang einer Gesellschaft mit ihrem Gedächtnis, anhand der mit boshafter Durchsichtigkeit gestellten Frage: Was ist von dem berühmten Bergier-Bericht, der tatsächlich die unrühmliche Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg aufarbeitete, zehn Jahre nach Veröffentlichung noch präsent?

Unser Geschichtslehrer sagte ja immer, wer die Vergangenheit nicht begriffen hat, wird die Gegenwart nicht bewältigen - wir leben in einer geschichtslosen Zeit, beklagt Bärfuss. Was sich damit verbindet, ist die Frage nach der Konstruktion einer Identität. Woher kommen wir, wer wir sind?

Plötzlich will er schreckliches Wissen unter die Leute bringen

Tony ist ein sympathischer Kerl in der Uraufführung von Lars-Ole Walburg am Schauspielhaus Zürich. Ein liebenswürdiger Tagträumer, man möchte sagen: ein unbeschriebenes Blatt, bis ihm eben just die Kiste auf den Kopf fällt. Fortan will er das ihm zugefallene schreckliche Wissen unter allen Umständen unter die Leute bringen. Die Geschichte jenes Bernhard Berghaus zum Beispiel, des deutschen Großindustriellen, dessen Fabriken Bestandteile für Hitlers Waffen geliefert hatten und der nach dem Krieg in der Schweiz als angesehener Bürger aufgenommen wurde. Oder aber von Oskar H., der in die Schweiz flüchtete und nicht willkommen war, zurückgeschickt und abtransportiert wurde nach Drancy und Auschwitz.

Tony ist ein tumber Tor, eine Candide- oder Parsifal-Figur, mit großen, leuchtenden Augen stolpert Sean McDonagh in der Rolle über die Bühne in Zürich. Er bringt in der Tat jenen „treuen Hundeblick“ mit, den ihm seine Lisa bescheinigt, eine idealistische Energie aus Betroffenheit.

Die Geschichten verfolgen ihn, er stößt auf lauter Wände. Niemand will mit ihm darüber sprechen: Lisa nicht (Franziska Machens), so wenig wie die Altlinken vom Bürgerradio, auch nicht der Journalist mit dem schönen Namen Wüthrich, er hat sich in eine Waldhütte zurückgezogen wie weiland Thoreau. Nicht einmal der Herausgeber des Berichtes selber, der Historiker, der kapituliert hat und sich auf das akribische Sortieren von Knöpfen verlegt (Klaus Brömmelmeier). Und schon gar nicht die Megatalent-Kürer vom Fernsehen, in das es Tony als „Gedächtniskünstler“ verschlägt: Das ist eine der kostbaren Szenen an diesem Abend, wie Tony sich Gehör verschaffen will und Lukas Holzhausen als Guido der Talkmaster ihn zynisch rauswirft.

Weiterdrehen der Spirale

Bärfuss ist ein Moralist, und er wird immer „dürrenmattischer“: im Entstellen zur Wahrheit, in der Groteske, im Weiterdrehen an der Spirale der jeweils schlimmstmöglichen Wendung.

Auch Oskar H. tritt selber auf (Ludwig Boettger), der Überlebende aus dem KZ, gespenstisch wehrt er sich gegen die Erinnerung, ein Sektglas in der Hand, auf der Fernsehparty, das Einzige, was ihn noch interessiert, ist die selbstgemachte Mayonnaise.

So stolpert Tony in diesem Boxring des unerwünschten Wissens, den Bühnenbildner Rober Schweer aufgebaut hat - ein mit Hunderten sogenannter „Bundesordner“ getäfeltes Geviert - von K.o. zu K.o. Bis er sich am Ende dem Wurfexperiment noch einmal unterzieht und kompetitiveres Wissen in den Kopf schlagen lässt: einen Management-Leitfaden, das Chinesisch-Wörterbuch. Darob aber auch all seine übrigen Fähigkeiten verliert.

Der Regisseur Lars-Ole Walburg streicht diesen Schluss, was dem Abend seinen komischen Drive rettet, das Stück aber auch seiner Geschlossenheit und die Tony-Figur eines zentralen Aspekts beraubt. Denn es geht ja auch um Lebensbildungskonzepte. Walburg setzt dagegen ganz auf Farce. Dies bewahrt ihn vor drohendem wohlfeilen Gutmenschentheater; engt aber auch ein. Walburgs Inszenierung wird je länger, desto eintöniger - daran kann auch Sean McDonagh mit seinem unverzagten Strahlen wenig ändern.

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