: Unterschwellige Fiebrigkeit
Vierzig Jahre Komponieren ohne Kompromisse: Der in Delmenhorst lebende Hans Joachim Hespos wird 65
„Komponieren, das ist wie Sistrum, jenes altägyptische Rasselidiophon, dessen Schüttelbewegungen den Menschen vor Augen und Ohren führt, dass die todbedrohte Welt ständig aus ihrer Erstarrung aufgerüttelt werden muss.“
Seit vierzig Jahren komponiert Hans Joachim Hespos nach diesem Credo: Heute wird er, 1938 in Emden geboren, 65 Jahre alt. Angesichts so vieler angepasster Tonalitäten und Trends, die weltweit in die Philharmonischen Konzerte passen, ohne dem Publikum weh zu tun, ist die Konstanz seines Komponierens so selbstverständlich nicht.
1964 hatte sich der damalige Grundschullehrer mit dem nur fünfminütigen „für cello solo“ so dermaßen nachdrücklich in die deutsche Musikszene eingemischt, dass er kurz darauf seinen Schuljob aufgab. In einer Zeit, in der in Deutschland vor allem die Zwölftontechnik aufgearbeitet und in der Serialität weitergeführt wurde, setzte Hespos einzig auf den extremen Ausdruck. Charakteristisch für ihn ist die Ablehnung jeglicher kompositorischer Systeme, das „Komponieren ohne Netz“.
Wie anders könnte man auch jene Ausdrucksanweisungen verstehen, die es noch nie gab und die musikhistorisch die Interpretationsanweisungen beispielsweise eines Robert Schumann weiterführen. „Von zisch-ribbelnder Unruhe“, „ereignisse von unterschwelliger fiebrigkeit“, „leise berstungen“, „stimmüberschlagend hysterisch zerkreischt“, „verstörte Gesten stiller Ratlosigkeit“ wird zu durchaus exakt notierten Noten verlangt.
Wie sind solche Klänge herstellbar und wie klingt das? Die InterpretInnen erzählen immer wieder: Hespos‘ Partituren seien nicht einfach spielbar, so mal eben, als Auftrag, für Geld, als „Mucke“, wie der Musiker sagt. Das Extrem der Forderungen verlangt Identität, verlangt Zusammenleben während der Proben: Die Reihe der Uraufführungsskandale und nicht zu Ende gebrachten Einstudierungen nimmt er entweder genervt oder gelassen zur Kenntnis, ändern tut er nie etwas. Natürlich kann es für das Klangergebnis immer nur utopische Annäherungen geben, im besten Fall spürt der Hörer etwas von der zugrundeliegenden Geste, um die es Hespos einzig und allein geht.
Eine solche Haltung hat auch Konsequenzen auf das tägliche bürokratische Komponistenleben: Bis heute hat Hespos seinen eigenen Verlag, er macht buchstäblich alles alleine, schreibt seine Rechnungen, kauft seine Flugkarten, macht seine Fotokopien und klebt seine Partituren. Andere seines Renommees sind durch Professuren in Lohn und Brot. Hespos hingegen reichen Meisterkurse und die gelegentliche Mitwirkung in Jurys – und eigentlich muss er da auch meist ganz schnell wieder weg.
Hespos neuere Ausdrucksbezeichnungen für Stimme, für die er in den letzten Jahren vermehrt schreibt, lesen sich wie Lehranweisungen für das Bel Canto, jene italienische Lehre des Gesanges, von dem der italienische Komponist Giacchino Rossini sagte, sie lege „den verborgenen Sinn offen“: „groß aufstrahlen“, „von verwirrender Elastik“, „irrsinnig abdrehendes, hochdramatisches Gemisch“, „immer dunkler färben“, „geschmeidig leuchtend“. Natürlich gibt es bei Hespos keine „Rollen“: Seine Stimmen sind „stimmfiguren“, „raumfiguren“ oder „stimmenkörper“.
Immer wieder macht Hespos, der jetzt an einer „Oper“ für das Staatstheater Hannover arbeitet, auch – und das ganz besonders gerne – Projekte mit SchülerInnen. Er hat nicht nur den Namen Delmenhorst in alle Welt getragen, alle Welt kommt auch zu ihm: zum kleinen, aber feinen Festival „Neue Musik in Delmenhorst“. Seit nunmehr dreißig Jahren immer am 11.11. – „damit niemand sagen kann, er wisse den Termin nicht“.
Ute Schalz-Laurenze
Heute Abend gibt es mit „Sinfonietta Leipzig“ um 20 Uhr ein Geburtstagskonzert in der Großen Kirche in Emden. Eine CD bei CPO 495 5521 „Hommage an einen Außenseiter“ wünscht „neue Hör- und Entdeckerfreuden“