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■ KolumneUntergang der Feinmotorik

„Braun ist schön“, liest man derzeit gelegentlich auf Werbeflächen in Hamburg. Darf man das jetzt sagen? Ist es also wieder soweit? Sollten wir schnellstmöglich sehen, daß wir in irgendeinem sympathischeren Land Asyl erhalten? Nein, es ist nur ein Sonnenstudio, das Hanseaten davon zu überzeugen versucht, den vornehm blassen, heldisch-germanischen Hautton gegen den des welschen Untermenschen einzutauschen. Wir wissen nicht, ob sich mit diesem Satz tatsächlich eine Umsatzsteigerung herbeiführen läßt. Aber kann es sein, daß ihn vielleicht doch ein paar Menschen mißverstanden haben – womöglich unbewußt – und sich so in ihrem Vorhaben bestärken ließen, die gleichfarbige Gesinnung zu zeigen und gegen den „Doppelpaß“ (schon jetzt heißester Kandidat für das „Wort des Jahres“) zu unterschreiben?

Bild und Kicker sind da schon weiter. Sie fordern „Eine Million Unterschriften für einen Doppelpaß“ – Adressat dieser Forderung ist jedoch die deutsche Fußballnationalmannschaft. In dieselbe Kerbe schlägt Bayern-München-Trainer Ottmar Hitzfeld, wenn er die Einbürgerung begabter Jugendspieler nichtdeutscher Nationalität fordert – wie er meinen nicht wenige, daß darin die einzige Chance liegt, irgendwann wieder von einer deutschen Nationalelf einen echten Doppelpaß zu sehen. Den wissenschaftlichen Hintergrund dazu lieferte unlängst die FAZ. Neuesten Untersuchungen zufolge seien bei den deutschen Kindern die Fein- und Grobmotorik zunehmend gestört, meldete sie. Ein jeder Lehrer bestätigt das gerne: Unser Nachwuchs tut sich beim Schreiben, beim Turnen und beim Handarbeiten schwer. Statt dessen wird ununterbrochen sinnlos am nächstbesten Gegenstand herumgepult, herumgeknispelt und –gekaut.

Schuld daran ist natürlich die Reizüberflutung unserer Gesellschaft. Auch wenn das ein platter Gemeinplatz ist, ertappe ich mich mitunter bei der Überlegung, wie man sich wohl vorkommt, wenn man sich ständig entscheiden muß, was man vom unendlichen Spaßangebot als nächstes nutzt. Reizüberflutet ist eine Kindheit wahrscheinlich zu jeder Zeit gewesen, aber dieser ständige Entscheidungsterror macht auch aus dem phlegmatischsten Erwachsenen ein nägelkauendes Wrack.

Der Untergang der Feinmotorik wäre auch eine Erklärung für die Tatsache, daß es keine technisch versierten Musiker mehr gibt. Oh, es gibt sie schon noch, aber sie verbergen sich in von außen nicht einsehbaren Nischen wie Metal, New Age, Light Jazz, Retro Jazz usw. Wahrnehmungs- und kommunikationsgestörte Nerds sind sie. Verliebt schauen sie auf ihren Gitarrenhals und sonst nirgendwohin. Daß normale, mitteilungsbedürftige Menschen sich ein Instrument schnappen, relativ schnell damit klarkommen und dann Herz und Hirn von Generationen von Mitmenschen erleuchten, das gibt es nicht mehr. Komisch.

Detlef Diederichsen

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