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■ Unter Scharping wird die SPD zur MinimalparteiDer Mann, der Rätsel aufgibt

Unbekanntheit als Ressource im Kampf um die Macht – das ist eine neue Qualität von Politik. Keine demokratische, wo viel von Transparenz die Rede ist, aber eine effiziente, mit der Rudolf Scharping Parteivorsitzender wurde und es im Herbst vielleicht zum Kanzler bringt. Während die Öffentlichkeit immer noch über ihn rätselt, hat er längst Fakten geschaffen. Der rechte SPD-Flügel sagt: „Er ist einer von uns“, die Linken vom Frankfurter Kreis erinnern sich: „Aber er war doch bei unseren Sitzungen.“ Er selbst will das Zentrum in der SPD neu errichten. Das Zentrum ist der Ort, von dem aus man jedes Manöver starten und der Mehrheit der Partei das Gefühl vermitteln kann, sie sei dabei.

Rudolf Scharping steht für einen Richtungswechsel der SPD, den er selbst als Hauptakteur betreibt. Es geht um einen Kurswechsel von Mitte-Links zu Mitte- Rechts. Die Situation ist neu und einmalig: Scharping betreibt den Wahlkampf 1994 zugleich als innerparteilichen Richtungswechsel. Der wahlkampfbedingte Zwang zur Geschlossenheit; die Zentrierung auf den Spitzenkandidaten; die öffentliche Festlegung der Partei in einem Dauerwahlkampf; das Einspielen des typisch Scharpingschen Stils starker interner Kommunikation und Disziplinierung – noch bevor ein Schritt zum Umbau der Gesellschaft getan wurde, ist die Partei umgebaut.

Das Sanktions- und Disziplinierungspotential Scharpings gegenüber seiner Partei ist ungewöhnlich groß: Er ist der vierte Vorsitzende seit 1987 – nun will die Partei endlich Kontinuität; Dauerwahlkampf und Chance des Machtwechsels erlauben eine Diszplinierung der Partei wie seit den Tagen Herbert Wehners nicht mehr; der „Erfolg“ ist schon heute garantiert, weil er vom Tiefstand 1990 aus gerechnet wird: 33,5 Prozent.

In atemberaubendem Tempo räumt Scharping programmatische Positionen – wer nach Petersberg I, II usw. rechnet, kommt gar nicht mehr mit: Asyl, Lauschangriff, Pflegeversicherung, Außenpolitik, Tempolimit, Mineralölsteuer. Dabei versucht er, die politische Mitte neu zu besetzen. Die Mitte bezeichnete Helmut Schmidt als jene Wähler, die von Fall zu Fall für die SPD oder für die CDU/CSU stimmen würden. Dort, so die in den 60ern und 70ern erfolgreiche Lehre, entscheiden sich die Wahlen. So soll es heute wieder sein. Und nach den Gesetzen der politischen Angebotsökonomie muß die Partei zu den Wählern passen, die sie umwirbt.

Scharping gibt Rätsel auf, weil er einerseits offen, pragmatisch und lernfähig wirkt, andererseits einige unverrückbare Prämissen in sich trägt. Er, der tatsächlich vom rechten Rand der SPD-Linken kommt, zeigt keine Linientreue. Aber alle seine Abweichungen liegen auf einer Linie, die nach rechts führt. Scharping bezieht im Konflikt zwischen „alter“ und „neuer“ Politik klar Position für das ältere Politikmuster: den „materialistischen“ Politikansatz mit Brot-und- Butter-Fragen sowie der Durchbuchstabierung des Sicherheitsthemas. Er ist für die ökonomisch- bürokratische Modernisierung und für soziale Korrekturen. Zugleich schiebt er die Themen des postmaterialistischen Jahrzehnts beiseite (Ökologie, Frauenfrage, Pluralisierung der Lebensstile), die im Berliner Programm 1989 kulminierten – und endeten. Was wie ein Eingehen auf den veränderten Zeitgeist aussieht, ist bei Scharping Ausdruck seiner politischen Biographie und Persönlichkeit.

Er will kein Reformprojekt, er will an die Macht

Obwohl der jüngste der Enkel und als einziger von ihnen der APO- Generation zugehörig, ist er, wie er selbst sagt, „eher kein 68er“. Wenn schon Kontinuitäten bemüht werden, erscheint Scharping als der Enkel von Helmut Schmidt, nicht von Willy Brandt. Seine Versuche, sich als Erben von beiden (und außerdem von Wehner) zu stilisieren, sind zentristische Fingerübungen. Die Gefahren, in denen die anderen Enkel sich verfingen (Medien-, Selbstverwirklichungs-, Ästhetisierungsfalle), haben ihn nicht berührt. Sein Grundmuster läßt sich als Risikominderung beschreiben: geringe Fallhöhe, aber auch keine Höhenflüge.

Die innerparteiliche Wahl Scharpings im Juni 1993 drückte zum damaligen Zeitpunkt nicht die mehrheitliche Grundtendenz der SPD aus. Intelligente Regisseure haben Verfahren durchgesetzt, die schlecht für Schröder und gut für Scharping waren. Große Verliererin war die innerparteiliche Linke, die zu dieser Zeit noch potentiell mehrheitsfähig war. Zerfall und Schwäche der Parteilinken sind die Stärke Scharpings. Nicht die immer noch nicht regenerierte Parteirechte, sondern Scharping profitiert vom Machtvakuum in der SPD. Die Linke im weiteren Sinne, das heißt der innerparteiliche Mitte-Links-Zusammenhang, ist ideologisch, sozial und in Wertfragen gespalten. Sie ist eher reaktiv als aktiv-gestaltend, zeigt Führungsschwäche und ist letztlich strategieunfähig. Gemessen an ihrem eigenen Anspruch, die SPD der 80er (und danach!) zu sein, ist sie gescheitert. Seit 1968 ist die SPD mit einem erweiterten linken Feld konfrontiert. APO, neue soziale Bewegungen, Wertwandel durchschneiden die Partei und ihre WählerInnen. Die Grünen sind neue Konkurrenten am Wählermarkt. Die SPD hat in dieser Lage drei Strategien durchprobiert: Gesamtintegration, kooperative Arbeitsteilung und die Strategie reduzierter Ansprüche.

Die Strategie der Gesamtintegration ist gescheitert. Willy Brandt wollte sie, zustande kam sie nie. Niemand hat heute ein Konzept, alle sozialdemokratischen Potentiale unter einem Dach zu sammeln und zu binden; die Aufgabe ist noch schwieriger geworden als vor 20 Jahren. Auch die rot- grüne Arbeitsteilung und Zusammenarbeit steckt in der Krise. Scharping hat es mit seiner Strategie reduzierter Ansprüche in einer verunsicherten SPD heute relativ leicht – er lebt auch von der Schwäche der Alternativen.

SPD-Wahlstrategen gelingt keine effektive Steuerung des magischen Vierecks sozialdemokratischer Wählerpotentiale (von der klassischen Arbeitnehmerschaft bis zum sozialdemokratischen Rechtspopulismus). Allein das rot- grüne Potential in der SPD-Wählerschaft (Erstsympathie SPD, Zweitsympathie Grüne) umfaßt etwa 40 Prozent der SPD-Wählerschaft. Gezielte inhaltliche und personelle Angebote des Kandidaten sind nicht zu erkennen – wo werden sich diese Wähler im Herbst wiederfinden?

Scharping präsentiert ein Projekt: ökonomische Modernisierung und Korrekturen sozialer Asymmetrie. Ein anspruchsvolles Reformprojekt ist das nicht. Die Spekulation darüber, was Scharpings SPD „wirklich will“, hilft nicht weiter – sie weiß es selbst nicht. Nach der Volkspartei hat sie die Stufe der „Minimalpartei“ erreicht: Alles inhaltlich Bestimmtere wie Themen, Programme und Koalitionen ergibt sich situativ durch Elitenhandeln, bei der SPD heute extrem verengt auf Scharping. Der ist zwar kein Freund von Rot-Grün. Wenn aber nur die Grünen ihn ins Kanzleramt bringen können, macht er es auch mit ihnen. Ob die Grünen sich in einer solchen Koalition wiedererkennen, liegt wesentlich am Wahlergebnis. Der Politikertypus Rudolf Scharping ist in einem Maße auf Macht gepolt, daß die Machtfrage vor der Reform und am Schluß hoffentlich auch hinter ihr steht. Joachim Raschke

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