Unter Einfluß? - Der „Fall Weimar“ vor dem BGH

Dämpften Beruhigungsmittel die Vernehmungs- und Verhandlungsfähigkeit der wegen doppelten Kindsmords zu lebenslänglicher Haft verurteilten Monika Weimar? / Bundesgerichtshof berät heute über Revisionsantrag / Nachweis des Einsatzes von Drogen kann zur Aufhebung des Urteils führen  ■  Aus Frankfurt Heide Platen

Heute um neun Uhr tritt der Bundesgerichtshof in Karlsruhe zusammen, um darüber zu entscheiden, ob Monika Weimar im Januar 1988 zu recht zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden ist. In einem spektakulären Verfahren hatte die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Fulda sie nach 44 Verhandlungstagen für schuldig befunden, im August 1986 ihre beiden Töchter Melanie, sieben Jahre alt, und Karola, fünf Jahre alt, ermordet, erwürgt und erstickt zu haben. Seither sitzt sie im Frankfurter Frauengefängnis Preungesheim. Bis zum letzten Verhandlungstag bestritt sie die Tat und beschuldigte ihren Ehemann, Reinhard Weimar, der Täter zu sein.

Nie werden die Szenen zu vergessen sein, die sich am 8.Januar 1987, dem Tag der Verurteilung, im und um das Gebäude des Fuldaer Landgerichts abspielten. Der Vorsitzende Richter Klaus Bormuth floh nach seinem Spruch nachgerade aus dem Gerichtssaal. Hastig ließ er sich in den Mantel helfen. Monika Weimar blieb im Ansturm der Presse und der geifernden Menge zurück. Ihr Abtransport aus dem Gerichtsgebäude in das am Hinterausgang wartende Polizeiauto glich einem Hexenkessel. Eine drohende, Handtaschen und Regenschirme schwingende Meute drängte sich um sie, schrie und hieb um sich, zertrampelte die Blumenrabatten und stürmte auf die Verurteilte ein.

Die spontane Pressekonferenz ihrer beiden Rechtsanwälte Ulrich Dähn und Wolf-Rüdiger Schultze im Hotel „Maritim“ gleich neben dem Gericht geriet zu einer Mischung aus Empörung über das Urteil und tiefer Verbitterung. Die Anwälte legten umgehend Revision ein und erstellten zur Begründung einen über 300 Seiten langen Katalog. Sie schalteten außerdem die Hamburger Revisionsrechtler Schwenn und Strate ein. Johann Schwenn besuchte Monika Weimar im März 1988 im Gefängnis. Er berichtete später, ihm sei zu allererst aufgefallen, daß die in der Presse als „eiskalt“, stur und und stoisch beschriebene Frau auf ihn einen offenen, freundlichen, hilfsbereiten Eindruck gemacht habe. Diese Beobachtung hatten auch die beiden GutachterInnen Prof. Elisabeth Müller-Luckmann und Prof. Willi Schumacher vor Gericht berichtet, die tagelang mit Monika Weimar gesprochen hatten. Beide kamen zu dem Ergebnis, die Tat sei ihr „wesensfremd“, sie habe sich ihnen gegenüber offen und kooperativ gezeigt. Ein Widerspruch zu dem Verhalten der Frau im Gerichtssaal, den sich auch alle ProzeßbeobachterInnen nicht zu erklären vermochten. Die gepreßte Stimme der Monika Weimar, ihre offensichtliche Abwesenheit, ihre stockend hervorgebrachten Aussagen, der starre Blick, die angestrengte Konzentration, mit der sie selbst einfache Sachverhalte schilderte, machten es leicht, Vorurteile zu schüren.

Revisionsrechtler Schwenn ließ sich die Krankenblätter der Monika Weimar aushändigen und machte eine Entdeckung. Die Frau hatte an etlichen Verhandlungstagen vor der Fahrt von Preungesheim nach Fulda „Diazepam 10“ der Firma Ratiopharm in hoher Dosis verabreicht bekommen. Diazepam ist identisch mit dem bekannteren Medikament „Valium“. Es dämpft Angstgefühle und Streß, packt die Patientenpsyche in Watte, macht müde und vor allem schon nach kurzer Einnahmezeit abhängig. Verordnerin war die seit Jahren unter Beschuß stehende Anstaltsärztin Helena Schiel. Denn sie, der Gefangene immer wieder vorwarfen, alle einsitzenden Frauen für SimulantInnen zu halten, rüde zu behandeln und lediglich mit Drogen „ruhig“ zu stellen, zeichnete auf den Krankenbögen verantwortlich für die Gaben von jeweils bis zu 30 Milligramm Diazepam an mindestens fünf wichtigen Verhandlungstagen. Sie wurden der Frau jedes Mal morgens vor der Abfahrt ins Gericht von der sie begleitenden Justizwachtmeisterin Michele Lämmer verabreicht.

Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe forderte, um sich ein Bild machen zu können, zu diesem Punkt dienstliche Erklärungen von Justizangestellten aus Preungesheim an. Sollte sich herausstellen, daß Monika Weimar während der Hauptverhandlung unter starkem Drogeneinfluß stand, muß das Urteil aufgehoben und an ein anderes Gericht in gleicher Instanz verwiesen werden. Wenigstens die fünf Verhandlungstage in Fulda, die die Hamburger Revisionsspezialisten in ihrer „Diazepam-Rüge“ auflisten, gälten dann als in Abwesenheit der Angeklagten erfolgt. Dies wäre ein absoluter Revisionsgrund. Eine neue Verhandlung in gleicher Instanz müßte anberaumt werden. Juristen werten schon die mündliche Verhandlung in Karlsruhe als einen Erfolg. Denn 90 Prozent aller Revisionsverfahren werden schriftlich abgelehnt.

Schon während des Verfahrens hatten die Rechtsanwälte Schultze und Dähn moniert, daß Monika Weimar während ihrer polizeilichen Vernehmungen durch die Sonderkommission der Kriminalpolizei in Fulda unter Psychopharmaka stand. Der Hausarzt hatte ihr und ihrem Mann die Medikamente nachgerade in der „Familienpackung“ auf den Tisch gestellt.

Psychopharmaka hatten im Verfahren auch eine Rolle gespielt, als das widersprüchliche Verhalten des Ehemannes Reinhard Weimar zur Sprache kam. Er stand ständig unter Drogen und Alkohol, leugnete das aber hartnäckig. Er habe nur genommen, sagte er aus, „was der Arzt mir verschrieben hat“. Reinhard Weimar ist inzwischen in psychiatrischer Behandlung im Kreiskrankenhaus in Marburg-Cappel. Dorthin war er eingeliefert worden, nachdem er kurz vor Weihnachten 1988 angefangen hatte, das Telefon zu benutzen. Er hatte die Kriminalpolizei, die Staatsanwaltschaft, die Lokalzeitung angerufen. Er habe, teilte er mit, noch etwas „Wichtiges“ zu sagen. Reinhard Weimar versuchte, die Angerufenen zu einem Besuch bei sich zu bewegen, und deutete an, sein Schwager habe „etwas“ mit dem Tod eines der Kinder zu tun.

Dieser Schwager galt in der Gerüchteküche des Dorfes Röhrigshof-Nippe als illegitimer Vater der älteren Tochter Melanie. Er hatte im Zeugenstand süffisant berichtet, daß die beiden Kinder auf ihn mehr gehört hätten als auf ihren Vater Reinhard Weimar. Noch am Vorabend des Tattages sei er deshalb um das Haus geschlichen und habe unter Reinhard Weimars Fenster gelauscht. Er habe hören wollen, wie die Kinder ihrem Vater in Abwesenheit der Mutter „auf der Nase herum„-tanzten. Schon in seinen ersten polizeilichen Vernehmungen hatte Weimar angedeutet, sein Schwager habe „etwas“ mit der Tat zu tun.