: Unsozialer Streik
Treibt eigentlich pure Doofheit die Gewerkschaften dazu, den öffentlichen Nahverkehr zu bestreiken? Merken sie nicht, daß sie damit ihren Streik auf den Schultern der sozial Schwächsten austragen, oder arbeiten sie absichtlich unsozial, Motto: soziales Ziel heiligt die unsozialen Mittel? Aus Angst vor der Macht der sozial Bessergestellten und deren Gesetze blockieren sie nicht zeitgleich zum öffentlichen Verkehr mit ihren Bussen die Autobahnen, trauen sie sich nicht, stundenweise Strom und/oder Wasser oder für ein paar Abende das Fernsehen abzuschalten oder dergleichen mehr.
Statt dessen macht sich die ÖTV die Methoden des Kapitalismus zu eigen: auf Kosten der sozial Schwächsten, vor denen sie sich nicht zu fürchten braucht, versucht sie, ihre eigenen Ziele durchzusetzen. So müssen jetzt die, die aus sozialen, Umweltschutz- und/oder privaten Gründen kein Auto haben, die mit 1.600 DM netto 120 DM für eine Monatskarte zahlen, jetzt zusätzlich gigantische Taxirechnungen begleichen, sich bei Auto-KollegInnen für Teilstücke anbiedern und sind oft trotzdem 14 Stunden am Tag unterwegs, müssen häufig Überstunden nacharbeiten und kriegen am Monatsende auch noch was abgezogen, sofern die Postbank überhaupt gewillt ist, Gehaltsbuchungen durchzuführen.
Welcher Sinn steckt hinter diesem ungleichen, einseitigen Kampf? Die, gegen die sich die Aggression der Gewerkschaften richten sollte, kriegen solche Streikmaßnahmen nicht zu spüren. Und ich, die ich jetzt darunter leiden muß, bin nicht Schuld an der Misere im öffentlichen Dienst, habe diese Regierung sowieso nicht gewählt und bin schon lange für eine Änderung der sozialen und umweltpoltiischen Situation. Gut, daß ich jetzt weiß, daß mir dabei sogar die Gewerkschaften in den Rücken fallen! N.Becherer, Dortmund
Ist dieser Streik angebracht? Hat Deutschland keine größeren Probleme zu bewältigen als diesen Tarifkonflikt? Ist es unumgänglich, daß beide Seiten auf den uralten klassenkämpferischen Positionen beharren und dadurch der Volkswirtschaft Millionenverluste zugefügt werden?
Angenommen, der Streik wäre nötig: Ist es sinnvoll, durch Lahmlegen des öffentlichen Verkehrs gezielt das Autofahren zu fördern? Warum wird der Flugverkehr nur tageweise, der ÖPNV (in Berlin zum Beispiel) über eine viel längere Zeit, und dazu flächendeckend, bestreikt? Könnte diese seltsame Auswahl darin begründet sein, daß sich die Gewerkschafts-ChefInnen vorzugsweise mit Flugzeug und Dienstwagen fortbewegen? Ist es weiter klug, den Paket- und den Geldpostdienst zu bestreiken? Werden die Arbeitsplatzverluste, die durch die Abwanderung von Aufträgen an die private Konkurrenz (Paketdienste, Banken) entstehen (können), überhaupt in Betracht gezogen?
Und schließlich: Am Montagabend hat die Arbeitgeberseite bekanntgegeben, daß sie die Tarifgespräche mit einem neuen Angebot wieder in Gang bringen will: Warum dauert es geschlagene zwei Tage, bis dieses Gespräch endlich stattfinden kann? Wer profitiert da wie von der künstlichen Streikverlängerung? Antworten erwarte ich keine. Martin Brülkast,
Herisan/Schweiz
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