: „Uns vertrauen die Kids wenigstens“
■ Sozialpädagoge fordert Hilfe statt Strafe für afrikanische „Kinderdealer“ Von Silke Mertins
„Ich betreue einen liberianischen Junge, der mitansehen mußte, wie man seine Mutter vergewaltigte, und der gezwungen wurde, dabei zu lachen. Wenn man das hört, möchte man nur noch weinen.“ Der Sozialpädagoge Patrick Agyemang wundert sich nicht darüber, daß viele minderjährige afrikanische Flüchtlingskinder „total durchgedreht“ sind, wenn sie in Hamburg stranden. Er arbeitet bei der Gesellschaft zur Unterstützung von Gefolterten und kennt die quälenden Geschichten, die sie mit in die Hansestadt bringen.
Tatsache ist, so Agyemang, daß die meisten aus Kriegs- und Krisengebieten kommen – Sierra Leone, Liberia, Senegal, Gambia und so weiter. „Sehr wenige Jugendliche schaffen es überhaupt, hierher zu kommen.“ Die meisten fliehen, aus Angst, von den Rebellen- oder Regierungstruppen rekrutiert zu werden, in die Nachbarländer.
Erst seit 1989 kommen überhaupt afrikanische Kids nach Deutschland. Bis 1992 lebten in Hamburg etwa 200 minderjährige Flüchtlinge aus Afrika. „1992 gab es dann das Drama, daß sie alle in zwei Hotels mitten auf der Sexmeile St. Pauli untergebracht wurden; sechs bis acht in einem Zimmer. Das war für viele erst einmal ein Schock.“ Als es die ersten Razzien wegen mutmaßlicher Dealerei gab, weigerten sich die Hotelbetreiber, sie weiter zu beherbergen. Für eine Alternative hatten die Behörden aber nicht gesorgt. Viele Jugendliche landeten auf der Straße. „Auch die, die bis dahin nichts mit Drogen zu tun hatten, waren gezwungen, in dieses Geschäft einzusteigen, um überhaupt existieren zu können.“
Ein Sitzstreik in der Jugendbehörde führte lediglich dazu, daß die zum Teil erst 14- und 15jährigen von einer Notlösung zur anderen geschickt wurden. Schließlich saßen viele wieder auf der Straße und blieben dort. „Bei der ganzen Umverteilung sind etwa 80 obdachlos geblieben“, so Agyemang, „und das wurde der Kern der jugendlichen Kleindealer.“ Alle neuen, die danach am Hauptbahnhof ankamen, holten sich hier ihre Infos. „Es gibt keine Anlaufstelle, an die sich orientierungslose afrikanische Flüchtlingskinder – und auch Erwachsene – wenden können.“
Patrick Agyemang und der Dachverband afrikanischer Organisationen in Hamburg fordern seit langem ein Zentrum, eine Begegnungsstätte mit afrikanischen SozialarbeiterInnen, Freizeitangeboten und Beratung. „Das Konzept beinhaltet, daß wir die Kids beschäftigen, sie organisieren in Fußballclubs, in Musikgruppen, mit Deutsch- oder Computerkursen. Ihnen also etwas anbieten, um sie von der Straße zu holen.“
Doch die Hamburger Behörden wollten bisher von den Konzepten und Vorschlägen des afrikanischen Dachverbandes nichts hören. „Es ist die Unsicherheit, die Perspektivlosigkeit, die verhindert, daß man die Jugendlichen aus der Drogenszene holen kann.“ Selbst zu einem runden Tisch hätte sich die Stadt nicht durchringen können. „Wir haben das schon im Januar angeboten – bis jetzt keine Antwort.“
Hilfe bekommen die meisten erst dann, wenn sie straffällig geworden sind oder in der Psychiatrie landen. „Ich kenne allein fünf Fälle von Jugendlichen, die ins Krankenhaus eingewiesen wurden, weil sie vom Leben auf der Straße völlig durchgeknallt waren. Wenn die aus der Psychiatrie rauskommen, haben sie aber wieder keine Bleibe.“
Für die Lösung des Unterbringungsproblems hat der afrikanische Dachverband zwei Vorschläge gemacht: Zum einen könnten AfrikanerInnen, die als SozialarbeiterInnen qualifiziert sind, eine Unterkunft oder ein Heim aufbauen und leiten; eine andere Möglichkeit wäre, daß in Hamburg lebende afrikanische Familien die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge als Pflegekinder aufnehmen. „Das wäre für die Jugendlichen das Beste und für die Stadt das Billigste“, argumentiert Agyemang.
„Schon für einen Erwachsenen ist es schwer, mit dem Kulturschock fertig zu werden. Zu Hause hat man uns Europa als Himmel dargestellt, und du kommst mit der Vorstellung hierher, die Weißen sind Engel. Auch ich habe erst einmal Zeit gebraucht, um die Realität zu verkraften. Wie wird es dann erst einem Kind gehen, das überhaupt keine Orientierung hat?“
In den Einrichtungen, in denen afrikanische Kids, wenn sie Glück haben, untergebracht werden, gibt's häufig Probleme: „Die Sozialarbeiter kommen mit den Kids oft nicht zurecht, weil die Jugendlichen sie als Teil des weißen Systems, das sie unterdrückt, ablehnen. Sie trauen ihnen nicht.“ Deshalb, so ist Patrick Agyemang überzeugt, brauchen sie schwarze Streetworker. „Wir sprechen ihre Sprache und haben die Möglichkeit, an sie heranzukommen.“
Patrick weiß, wovon er redet. Denn er gehört zu den wenigen, die überhaupt mit „Kinderdealern“ am Hauptbahnhof und im Sternschanzenpark in Kontakt sind und ihre Probleme kennen. „Daß sie dealen, entgeht mir natürlich nicht. Aber ich rede mit ihnen. Ich sage ihnen, daß sie nicht nur ihre Zeit verschwenden, sondern daß das auch sehr gefährlich ist. Doch was kann ich ihnen anbieten gegen die Langeweile und die Perspektivlosigkeit? Was ist die Alternative?“
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