Unruhen in Schweden: Verbrannte Träume
Die Risse in der Gesellschaft werden größer. Nirgendwo ist das deutlicher zu spüren als in Husby, wo vor einer Woche die Unruhen begonnen haben
STOCKHOLM-HUSBY taz | Aus der U-Bahn der „blauen Linie“ strömen die Menschen zur Rolltreppe, die hoch zur „Tunnelbana“-Station von Stockholm-Husby führt. Alle ordnen sich diszipliniert rechts ein. „Na ja, das ist wohl mit das Erste, was man in Stockholm lernt“, lacht Rami al-Khamisi. Er ist Sprecher von „Megafonen“. Unter dem Slogan „Ein vereinter Vorort ist unbesiegbar“ hat es sich die vor fünf Jahren gegründete Organisation zur Aufgabe gemacht, in Husby und anderen Stockholmer Vororten für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus zu kämpfen.
„Lass uns gleich die Frage abhaken, ob wir die Brände verurteilen“, sagt der 25-Jährige: „Klar. Nichts ist einfacher, natürlich sind die falsch.“ Aber weder verteidige noch verdamme er diese Jugendlichen. Entscheidend ist, zu verstehen, um was es eigentlich geht. „Die strukturellen Probleme, die soziale Abrüstung.“
Fast eine Woche lang haben in Stockholms Vororten Autos und Müllcontainer gebrannt, wurden Schulen und Polizeistationen angezündet und Steine auf Polizisten geworfen. Pfingsten hatten die Unruhen hier in Husby begonnen und sich erst auf andere Vororte der Hauptstadt und dann auf einige weitere Städte ausgebreitet.
„Man kann es mit einem Satz sagen“, meint Khamisi: „Wir fühlen uns ausgeschlossen von der schwedischen Gesellschaft. Nicht nur geografisch.“ 15 Kilometer nordwestlich der Stockholmer City liegt Husby mit seinen gelben, weißen und grauen Plattenbauten. Dass es nicht die begehrteste Adresse ist, zeigt die Fluktuation der BewohnerInnen. Jeder Fünfte zieht jedes Jahr von hier fort. „Wohnst du an einem Platz wie Husby“, sagt der Megafonen-Sprecher, „bist du von vornherein stigmatisiert.“
Eine geteilte Stadt
Als „Weltklassestadt“ bewirbt „The capital of Scandinavia“ sich gern selbst. Doch Schwedens 1,5-Millionen-Metropole Stockholm ist eine geteilte Stadt. Eine wohlhabende Innenstadt und reiche Villenviertel sind umgeben von einem Ring aus Vororten, wo die Menschen zu einem großen Teil unter angespannten Verhältnissen leben.
In Husby, in dem die Bevölkerung zu 80 Prozent aus Einwanderern besteht, liegt die offene Arbeitslosigkeit bei fast 9, im „Schweden-Stadtteil“ Norrmalm bei 2 Prozent. Das jährliche Durchschnittseinkommen ist mit umgerechnet 44.000 Euro doppelt so hoch wie in Husby. Nur 3 Prozent der SchülerInnen verfehlen in Norrmalm das Gymnasium, in Husby sind es zehnmal so viel.
Gegen diese Segregation werde nicht genug getan, die Politik habe sie in den letzten Jahren sogar noch weiter zementiert, klagte Megafonen schon vor einem Jahr. „Die sozialen und mentalen Gräben, die unsere Stadt teilen, werden immer weiter vertieft.“ Es habe eine systematische Umverteilung der Ressourcen stattgefunden. Während in der City mit immer neuen Projekten geprotzt werde, regiere in den Außenbezirken der Rotstift. Serviceeinrichtungen und Ämter würden geschlossen, Schulen vernachlässigt. „Unsere Heimat ist nur noch eine Schlafstadt.“
„Menschen als Versuchskaninchen“
Neu ist das nicht. Auf dem „Järvafeld“, einem ehemaligen Truppenübungsplatz, waren Kista, Husby und Akalla zu Beginn der siebziger Jahre isoliert voneinander hingekleckert und als „Traumvororte“ vermarktet worden – als Teil des Millionenprogramms zur Behebung der Wohnungsnot. Binnen zehn Jahren wurde eine Million neuer Wohnungen aus dem Boden gestampft. Von vornherein als Wohnstadt konzipiert, wuchs Husby in drei Jahren von 83 auf knapp 15.000 EinwohnerInnen. Soziologen warnten damals vor einem „riskanten Wohnexperiment“, sprachen von „Menschen als Versuchskaninchen“.
2007 schickte die französische Regierung eine Delegation mit Exminister Dominique Perben an der Spitze nach Husby. Er sollte sich für ein Programm zur Entwicklung französischer Vororte inspirieren lassen und erkunden, warum es in Husby und Umgebung trotz ähnlicher Voraussetzungen wie in den Pariser Banlieues keine Unruhen gab.
„Die Ursachen haben sich über Jahre aufgetürmt“, sagt Khamisi. „Guck nur, wie es hier jeden Tag abläuft. 16-Jährige sind es mittlerweile gewohnt, beim Weg zum Fußballtraining von einer Polizeistreife angehalten und nach Drogen durchsucht zu werden.“ Es gebe eine regelrechte Militarisierung der Vororte. „Und all die Jugendlichen, die keinen Schulabschluss schaffen, die keinen Job kriegen, die wachsenden Klassenschranken. Ganz viele Junge haben das Gefühl, dass Vororte wie Husby für sie so etwas wie die Endstation sind.“
Plötzlich kommen Politiker
Man habe friedlich demonstriert, Versammlungen abgehalten, Politiker eingeladen, in Zeitungen geschrieben – doch eigentlich habe sich keiner interessiert. Das habe sich erst geändert, als Autos angezündet und Steine geworfen wurden. Plötzlich seien Medien und Politiker gekommen.
„Zerstörtes Eigentum! Brennende Autos! Steine! So schreiben die Medien“, heißt es in einem von Megafonen verbreiteten Text: „Aber wer spricht von zerstörter Kindheit, verbrannten Träumen und einer Politik mit einem Herz aus Stein?“
Der Tod eines 69-jährigen Rentners am 13. Mai durch Polizeikugeln sei in Husby nur „der sprichwörtliche letzte Tropfen“ gewesen, sagt Khamisi – so ähnlich wie es das Erschießen des Mark Duggan in London 2011 oder in Clichy-sous-Bois der Tod von Bouna Traoré und Zyed Benna 2005 in Frankreich war.
Nach offiziellen Angaben habe die Polizei den Rentner aus Notwehr erschossen, Anwohner vermuten einen rassistischen Hintergrund. Danach gingen in Husby Fahrzeuge in Flammen auf, Jugendliche bewarfen Polizei und Feuerwehr mit Steinen.
Stunk wirkt
Als es vor einigen Jahren in Stockholms Rinkeby und Malmös Rosengård Unruhe gab, habe man von der Stadt ein Jugendzentrum bekommen, erzählt Jennifer Hillbom, Freizeitleiterin und Megafonen-Mitglied: „Danach war alles schnell wieder vergessen. Die Jugendlichen haben gelernt, dass Stunk machen offenbar die einzig wirksame Methode ist, wenn man etwas bekommen will.“
Auch sie kritisiert die Polizei. „Ich bin weiß und selbst von Beamten als ,Ratte' beschimpft worden. Viele berichten von Beleidigungen wie ,Affe' und ,Neger'. Da ist immer von Dialogbereitschaft die Rede, aber wo soll die sein, wenn sie gleich mit Schilden, Schlagstöcken und Hunden anrücken?“ Das Verhalten der Polizei sei der Auslöser gewesen. „Sie sind brutal und betrachten uns im Zweifel erst mal als Kriminelle“, sagt Hillbom.
Seine Jugend sei wie „das Leben in einem Polizeistaat“ gewesen, schildert der 24-jährige Hiphop-Künstler Kim Ring am Freitag in Dagens Nyheter sein Leben in Husby und zwei anderen Stockholmer Vororten: „Ich wurde von der Polizei misshandelt, als Neger beschimpft und habe selbst Steine wurfbereit in der Hand gehabt. Anscheinend fällt es vielen Leuten schwer, zu akzeptieren, dass es uns gibt“.
Von der Notwendigkeit, die Vorwürfe gegen die Polizei wegen Brutalität und Rassismus ernst zu nehmen und gründlich zu untersuchen, sprach mittlerweile auch Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt. Er lehnt es dennoch ab, sich vor Ort zu informieren, und will auch keinen Zusammenhang zwischen der Politik seiner konservativ-liberalen Regierung und den Unruhen sehen.
Das Versagen der Politik
Reinfeldt sieht „Einzelne“ am Werk, „die mit Gewalt die Gesellschaft verändern wollen“. Da ist selbst Jens Spendrup, der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes, weiter, der das Versagen der Beschäftigungspolitik als „fast einzige Erklärung“ der brennenden Autos benennt.
Wenn in Schweden bisher nur einzelne Autos, aber nicht die Vororte brennen, ist das auch Selbsthilfeorganisationen wie Megafonen in Stockholm oder Pantrarna in Göteborg zu verdanken. Dort, wo die traditionellen Kanäle versagt haben, sind sie zum Sprachrohr für die Unzufriedenheit geworden. Wie andere Gruppen und Organisationen zeigten sie die in den letzten Nächten auf den Straßen Präsenz und forderten ein Ende von Polizeibrutalität und Gewalttaten.
Die Nächte am Wochenende waren in Stockholm trotz einzelner Brände die ruhigsten seit Tagen. Freitagnacht hatten noch herumziehende Neonazis versucht zu provozieren. In der Nacht zum Sonntag brannte in Husby nur noch Grillkohle. Auf dem Marktplatz war Fest. Und viele drückten es so ähnlich wie Esmat aus, die vor 19 Jahren in Husby geboren wurde: „Gewalt ist Mist. Die Aggression und den Frust, der dahintersteckt, verstehe ich aber.“ In Husby sei dennoch nicht alles nachtschwarz. „Doch ob sich etwas bessert, liegt an uns selbst“, sagt Esmat. Man spüre jetzt richtig so etwas wie neue Gemeinschaft. „Aber es muss sich auch etwas ändern.“
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