Unruhen in Indien: Mit Hammer und Sichel gegen Arme
Indiens Militär geht massiv gegen Unruhen in Kalkutta vor. Zuvor hatte die kommunistische Regionalregierung dort Armenproteste unterdrückt.
Zum ersten Mal in fünfzehn Jahren musste Indiens Regierung diese Woche in der Millionenstadt Kalkutta die Armee einsetzen. Eine islamische Organisation hatte am Mittwoch zu einer Demonstration gegen das brutale Vorgehen von Kadern der regierenden Kommunistischen Partei in Nandigram aufgerufen, ein Bezirk im Südwesten Kalkuttas. Im Zentrum Kalkuttas kam es darauf zu schweren Krawallen, bei denen Läden und mehrere KP-Parteilokale geplündert und in Brand gesteckt und zahlreiche Personen - meist Polizeibeamte - verletzt wurden. Die Regierung von Westbengalen erließ ein Ausgehverbot und holte die Armee zu Hilfe, um wieder Ordnung herzustellen. Seither hat sich die Lage beruhigt, die Ausgangssperre ist aber noch in Kraft.
Noch vor einem Jahr wären Bilder von brennenden Autos und mit Steinen übersäten Straßen in Kalkutta undenkbar gewesen. Die KP und ihr charismatischer Regierungschef Buddhadeb Bhattacharya hatten damals einen überwältigenden Wahlsieg errungen, rechtzeitig zum Jubiläum ihrer dreißigjährigen ununterbrochenen Regierungsgewalt.
Die Linksparteien fühlen sich als Wärter der säkularistischen Tradition des Landes und damit als Beschützer der Minderheiten, namentlich der muslimischen, gegen Angriffe der Hindu-Nationalisten. Die Muslime gehören zu den treuesten KP-Wählern. Was hat sie diesmal so gegen ihre kommunistischen Beschützer aufgebracht? Es ist wie immer in Indien ein komplexes Gewebe aus Armut, Politik, Machthunger und Ideologie.
Die armen und mehrheitlich von Muslimen bewohnten Weiler des Nandigram-Blocks in der Nähe der Industrieregion der Hafenstadt Haldia stehen seit bald einem Jahr im Zentrum eines bitteren Zwists. Ein indonesischer Konzern wollte in Nandigram ein Chemiekonglomerat errichten. Die Regierung, besorgt um die industrielle Rückständigkeit des Staats, demarkierte Nandigram als Sonderwirtschaftszone (SEZ) und begann mit der Zwangsenteignung der zahlreichen kleinbäuerlichen Liegenschaften. Dies erzeugte Unmut unter den Bauern, die um ihre Existenz fürchteten. Er wurde von den Oppositionsparteien geschürt, und als die Regierung im März mit Gewalt dagegen vorging, kam es in den Dörfern zu schweren Unruhen, bei denen vierzehn Menschen, in der Mehrheit Frauen, durch Polizeikugeln starben. Die landesweite Kritik zwang die Regierung, klein beizugeben. Sie gab ihre Industrialisierungspläne auf, die lokalen KP-Kader mussten einlenken.
Im nächsten Frühjahr finden in Westbengalen Lokalwahlen statt, und die Partei will Nandigram wieder in den Griff bekommen. Vor zwei Wochen überrannten mehrere tausend bewaffnete Parteikader auf Motorrädern und Lastwagen die Dörfer, brannten zahlreiche Häuser und Felder nieder, vertrieben tausende von Menschen. Es kam zu Plünderungen und Vergewaltigungen, und bald wehten überall wieder die roten Fahnen mit Hammer und Sichel. Die Polizei hatte offensichtlich Order, wegzuschauen.
Wie so oft waren es die Armen und die Muslime, die zum Opfer des politischen Konflikts wurden. Es war auch eine Gelegenheit für einige Islamisten, um auf der Entrüstungswelle gegen die KP-Regierung in Kalkutta zu reiten und ihren ideologischen Ressentiments freien Lauf zu lassen. Die Proteste vom Mittwoch galten nämlich nicht nur den Opfern von Nandigram.
Die Demonstranten schrien sich auch gegen die Visumsverlängerung für die Schriftstellerin Taslima Nasreen aus dem benachbarten Bangladesch heiser, die seit 2004 in Kalkutta wohnt. Sie ist den Islamisten ein Dorn im Auge, weil sie immer wieder gegen den radikalen und politisierten Islam anschreibt. Vor einigen Monaten wurde sie in der südindischen Stadt Hyderabad von mehreren Politikern tätlich angegriffen. Einen Tag nach den Ausschreitungen vom Mittwoch wurde sie nun aus Sicherheitsgründen nach Jaipur gebracht.
Die Straßenproteste in Kalkutta waren auf den Tag abgestimmt, an dem im indischen Bundesparlament in Delhi eine Debatte über die Ereignisse von Nandigram stattfand. Die rechte BJP-Opposition und die regierende Kongresspartei schimpften gleichermaßen auf die KP. Ebenso demütigend für diese ist aber auch die scharfe Kritik vieler Linksintellektueller am Vorgehen der Provinzregierung in Kalkutta. Sie vergleichen deren Vorgehen mit jenem ihres ideologischen Erzfeindes, dem Hindu-Nationalisten Narendra Modi im Bundesstaat Gujarat am anderen Ende des Landes. Er hatte 2002 als Regierungschef bei antimuslimischen Pogromen seine Parteikader auf die Muslime gehetzt und den Staat zuschauen lassen. Diesem Muster sind nun auch die Kommunisten in Westbengalen gefolgt.
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