Universitäten: Der Bachelor stresst die Studierenden

In nur zwei Jahren ist die Zahl der psychotherapeutischen Beratungen an Berliner Unis um 50 Prozent gestiegen. Therapeuten führen das auf die höhere Belastung durch den neuen Studienabschluss Bachelor zurück.

Bild: AP

Es soll Studierende geben, die sich auf den Semesterbeginn am Montag freuen. Für viele jedoch bedeutet das Ende der vorlesungsfreien Zeit nur zusätzlichen Stress. Denn mit der Einführung der Bachelorstudiengänge stieg die psychische Belastung der Nachwuchsakademiker. "Wir beobachten, dass der Beratungsbedarf stark ansteigt", sagt Sigi Oesterreich, Psychotherapeutin bei der Beratungsstelle des Studentenwerks, das Studenten aller Berliner Universitäten betreut. Im Jahr 2005 gab es 1.000 Neuanmeldungen, letztes Jahr seien es schon 1.440 gewesen. "Diese Entwicklung führen wir auf die Einführung des Bachelor-Systems zurück", sagt Oesterreich.

1999 einigten sich in Bologna 29 europäische Länder auf ein gemeinsames Studiensystem. Dieses sieht den Bachelor- und Masterabschluss (BA, MA) vor, statt wie bisher Diplom, Staatsexamen oder Magister. Die neue Ordnung ist verschulter: Anwesenheitspflicht, viele Klausuren und straffe Zeitpläne gehören dazu. Effizienter sollte das Studieren werden und die Abschlüsse international vergleichbar. Bundesweit strebten 2006 bereits 13 Prozent der Studierenden einen BA- oder MA-Abschluss an, Tendenz stark steigend. "Konkret heißt Bachelor, dass der Stoff aus bisher 9 Semestern, wie beim Diplom, nun in 6 reingequetscht wird", erklärt Tobias Rossmann, Referent in der Studentenvertretung der Humboldt-Uni (HU). Der Druck hat Folgen. Nach Angaben des Hochschul-Informations-Systems (HIS) beenden bundesweit 30 Prozent der Bachelor-Kandidaten ihr Studium ohne Abschluss - insgesamt liegt die Abbruchquote nur bei 21 Prozent.

"Wir vermuten dabei einen hohen Anteil an Studienfachwechslern", versucht HU-Vizepräsident Uwe Jens Nagel die Zahl zu erklären. "Warum sollten die Leute die Uni verlassen, das haben sie früher auch nicht getan." Der Durchschnittsstudent am landwirtschaftlichen Institut, das Nagel als Dekan leitet, brauche 6,7 Semester: "Diese Zahl finde ich überhaupt nicht dramatisch." Er räumt aber ein, dass das neue Studiensystem manchen überfordert: "Aber die Uni tut alles dafür, die Situation für Studierende mit besonderer Belastung zu erleichtern." So sei etwa ein Konzept für eine familienfreundlichere Hochschule in Planung.

Die Studierenden verzichten derweil freiwillig auf nicht vorgeschriebene Zusatzaufgaben. Das Interesse an internationalen Austauschprogrammen wie Erasmus ist deutlich gesunken. "In den letzten beiden Jahren ist die Zahl um 20 Prozent zurückgegangen. Hier gibt es einen direkten Zusammenhang mit der Umstellung", bestätigt Nagel. Die jetzige Generation überlege sich genau, wie lange sie studiert. Dahinter stehe gesellschaftlicher Druck. "Das ist sehr bedauerlich, denn internationaler Austausch war ein Ziel von Bologna. Wir suchen gerade nach den Ursachen", erklärt der HU-Vizepräsident.

Das hat die Studierendenvertretung seiner Uni längst getan. Das Ergebnis ihrer repräsentativen Umfrage zur "Studierbarkeit": 38 bis 45 Wochenstunden wendet die Mehrheit der BA-Anwärter fürs Studium auf. Das Problem kennt man nicht nur in Berlin-Mitte. "Wenn man nicht gerade zu den Glücklichen gehört, denen der Stoff zufliegt, ist man permanent mit Vor- und Nachbereitung des Stoffs beschäftigt", sagte die 28-jährige Isabel, die Ernährungswissenschaft an der Uni Potsdam studiert. "Eigentlich habe ich keinen Alltag oder Freunde außerhalb der Uni." Für einen Job fehlt die Zeit. Sie lebt von 500 Euro Bafög im Monat, ihre Eltern steuern 100 Euro dazu. "Das reicht zum Überleben. Aber ich überlege mir schon gut, ob ich ein neues Paar Schuhe brauche." Besonders für Studierende mit Kindern habe sich die Situation verschlechtert, lautet ein Fazit der Umfrage an der HU. Und für Studierende ohne Geld. "Da ich jobben muss, bleibt mir kaum Zeit, um richtig zu lernen", ist eine Stimme von vielen.

Laut einer Sozialerhebung des Bundesbildungsministeriums haben etwa 60 Prozent der Studenten einen Nebenjob. Denn oft reichen Bafög und die Unterstützung der Eltern nicht aus. Immerhin 90 Prozent der Studenten bekommen Geld von ihren Eltern.

"Es läuft darauf hinaus, dass eher diejenigen studieren, die von ihren Eltern unterstützt werden. So findet eine soziale Selektion statt", kritisiert die Psychotherapeutin Oesterreich. Die Doppelbelastung Studium und Nebenjob sei für viele kaum zu bewältigen. "Sehr stark haben Überforderungs- und Stresssymptome zugenommen", sagt Oesterreich. Die Bandbreite reicht von Schlaflosigkeit, Panikattacken bis zu depressiver Verstimmung. "Der Konkurrenzdruck ist erhöht. Dadurch treten Leistungsstörungen wie Prüfungs- und Redeangst oder Schreibblockaden auf." Einen Hochschulabschluss erreicht man so nicht.

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