: Ungelegene Bulletins über Pius XII.
Ein Sammler findet Dokumente auf einem Flohmarkt in Rom : Ein britischer Diplomat informierte den damaligen Papst über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs und die Judenverfolgung. Doch der schwieg. Und Woytila will ihn heilig sprechen
aus Rom MICHAEL BRAUN
Eigentlich war der Journalist Fabrizio Coisson ganz privat unterwegs, als er vor einigen Wochen über Roms Flohmarkt Porta Portese schlenderte, auf der Suche nach antiquarischen Titeln für seine Bibliothek. Und eigentlich wirkten die vier in billige Pappe gebundenen Bände, die da aus dem Karton eines der Trödler hervorlugten, nicht gerade wie bibliophile Sammlerstücke. Doch kaum schlug Coisson den ersten Band auf, wurde der Journalist im Büchernarr wieder wach. Eine handschriftliche Note, unterzeichnet von einem gewissen Osborne, informierte über den Inhalt: „Allied News Bulletins“, die von September 1940 an alle zwei Tage „to the Pope“ gingen, an Papst Pius XII.
Der Autor, Sir D’Arcy Godolphin Osborne, war seit 1936 britischer Botschafter am Heiligen Stuhl, und er hatte nach Italiens Kriegseintritt Zuflucht hinter den Mauern des Vatikans gefunden. Tag für Tag hörte er von dort drei Jahre lang die BBC-Nachrichten ab, fasste die wichtigsten Ereignisse in britisch-nüchterner Diktion auf eng beschriebenen Seiten zusammen.
Meist geht es da um den Kriegsverlauf, wird Ihre Heiligkeit zum Beispiel informiert, dass die Bombardierung Londons „geringe Schäden verursacht und nur wenige Opfer gefordert hat“. Doch vom Herbst 1940 an werden auch die Judenverfolgungen und die Situation in den deutsch besetzten Staaten angesprochen. Osborne schreibt: „Die Deutschen fachen in Ungarn, Rumänien und Bulgarien den Antisemitismus an“ (17. Oktober 1940); „schreckliche Nachrichten über die Lage in Polen: drei Millionen Polen sind getötet worden“ (21. September 1940). Im weiteren Kriegsverlauf werden die Meldungen über die Judenvernichtung präziser: „In der Slowakei wurden 77 Prozent der jüdischen Bevölkerung an unbekannte Orte deportiert; dies bedeutet wahrscheinlich ihren Tod“ (7. Januar 1943). „Die Zahl der Juden im Warschauer Ghetto ist von 400.000 im letzten Juli auf jetzt nur noch 35.000 gesunken“ (20. Januar 1943).
Fabrizio Coisson spielt die Bedeutung der Papiere herunter. „Wirkliche Sensationen finden sich da drin nicht“, meint er achselzuckend, „und außerdem spricht Osborne die Judenverfolgung nur sporadisch an.“ Ungelegen dürften die Osborne-Bulletins dem Vatikan dennoch kommen, hegt doch Papst Woytila die Absicht, Pius XII. im Doppelpack mit Johannes XXIII. heilig zu sprechen (ein schönes Beispiel katholischer Proporzpolitik). Mag sein, dass die Osborne-Meldungen kein grundlegend neues Bild von Pius XII. schaffen, doch sie vervollständigen das Bild von einem Papst, der schon früh Kenntnis von der Vernichtung der Juden hatte und dennoch sein Schweigen nicht brach.
Coisson nimmt Pius mit dem Hinweis in Schutz, die Deportation der 1.000 Juden aus Rom im Oktober 1943 sei Osborne nur die Bemerkung wert gewesen, die Deutschen brächten nun auch in Italien „antisemitische Maßnahmen zur Anwendung“. In diesem Falle aber musste der Papst nicht erst durch britische Quellen informiert werden. Die Juden Roms wurden direkt an den vatikanischen Mauern vorbei zum Bahnhof getrieben. Laut flehten sie den Papst um Hilfe an – eine Antwort erhielten sie nicht.
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