Ungarn hetzt und kooperiert mit der EU: Orbáns Pfauentanz
Ungarns rechtspopulistischer Regierungschef spielt ein doppeltes Spiel. Einerseits hetzt er gegen die EU, andererseits zeigt er sich kooperativ.
W ährend sich internationale Regierende auf der COP26 trafen, feuerte der nicht an der Konferenz teilnehmende Viktor Orbán eine weitere Breitseite gegen die EU ab. Er bezeichnete die grünen Vorschläge der EU als „utopische Fantasie“, die die Energiekosten in die Höhe treiben werde. Für den EU-Gipfel kommende Woche prophezeite er ein diplomatisches Gerangel.
Orbáns feindselige Stimmungslage mag aus der Einsicht resultieren, dass Europas Führungskräfte angesichts seiner illiberalen Politik langsam die Geduld verlieren. Die Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, nachdem die Regierung Anfang des Jahres ein homophobes „Pädophilengesetz“ verabschiedet hat.
Zugleich forderte die Kommission strengere Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, bevor sie Ungarns Auszahlungen aus dem Wiederaufbaufonds genehmigt. Auch an anderen Stellen fährt die EU eine härtere Gangart. So verhängte der EuGH gegen Polen unlängst eine Geldstrafe von einer Million Euro pro Tag, weil die Regierung in Warschau ein EU-Urteil ignoriert, das zum Schutz der polnischen Richter die Neubesetzung der Disziplinarkammer verlangte.
Es scheint heute riskanter als noch vor einigen Jahren zu sein, die EU offen zu provozieren. Als Reaktion auf die strenger werdende EU haben einige prominente Köpfe in der ungarischen Regierung angeregt, über einen Austritt des Landes nachzudenken. Einige von Orbáns Kabinettsministern haben die Idee in den Raum gestellt, die Mitgliedschaft in ein paar Jahren zu überdenken, wenn das Wirtschaftswachstum in Ungarn weniger von EU-Geldern abhängig ist. Hier zeichnet sich ein alarmierendes Muster ab:
ist ungarische Politikerin. Sie begann ihre Karriere in der Fidesz, die sie von 1990 bis 1994 im Parlament vertrat. Von 2014 bis 2018 zog sie erneut ins Parlament ein, diesmal im Auftrag der von ihr mitgegründeten sozialliberalen Zentrumspartei Együtt (Gemeinsam). Ihre Schwerpunktthemen sind Außen- und Sicherheitspolitik, Migration und Gender.
UngarInnen mehrheitlich gegen Huxit
Ob gewollt oder als Folge von Fehlentscheidungen: Ungarn steuert immer stärker auf einen EU-Austritt zu. Erst vor sechs Monaten verließ Orbáns Fidesz-Partei das Europäische Parlament, bevor sie nach wiederholten Verstößen gegen europäisches Recht aus dem Mitte-rechts-Block der EVP gedrängt werden konnte. Doch jenseits der Rhetorik – will Orbán tatsächlich die EU verlassen? Vordergründig deutet wenig darauf hin, dass er ernsthaft einen „Huxit“ anstrebt.
85 Prozent der ungarischen Bevölkerung befürworten die EU-Mitgliedschaft, unter ihnen 77 Prozent der Fidesz-Wähler. Wahrscheinlicher ist, dass er sich auf die Parlamentswahlen im Frühjahr nächstes Jahr vorbereitet, bei denen die Fidesz durchaus eine Niederlage erleiden könnte. Orbán versucht, das Erfolgsrezept von 2018 zu wiederholen, als die Fidesz ihre dritte Amtszeit in Folge mit einer radikalen Antimigrationspolitik und EU-feindlichen Haltung gewann.
Könnte sich dies auf lange Sicht ändern? Orbán heizt seine Anhänger unerbittlich mit EU-feindlicher Propaganda an. Man darf nicht unterschätzen, welch gewaltige Infrastruktur die Regierungspartei für ihre Kampagnen aufgebaut hat und wie geschickt sie die öffentliche Meinung zu manipulieren versteht. Wenn Orbán die Wahlen im nächsten Frühjahr gewinnt, könnte dieses Bollwerk die EU-freundliche Mehrheit aushöhlen.
Auch wenn einige europäische Regierungen über einen Austritt Orbáns mehr als glücklich wären, so würde ein Polexit oder Huxit doch einen dramatischen Bedeutungsverlust der EU in der Welt markieren. Nach dem Schock und den Turbulenzen des Brexits würde das niemand wollen. Orbán ist ein geschickter Taktiker. Während er einerseits die EU provoziert, zeigt er sich andererseits in für die Gemeinschaft wichtigen Bereichen kooperativ.
Bis zur Pandemie verfolgte Orbán eine disziplinierte Finanzpolitik, bei der er mit Deutschland und den sparsamen Ländern eine partnerschaftliche Beziehung pflegte. Nach dem Brexit blieb er kooperativ und blieb selbst in außenpolitischen Fragen und wichtigen Entscheidungen, wie den Sanktionen gegen Russland, auf gleicher Linie mit der EU. Nur bei weniger wichtigen Belangen schaltete er erneut auf Gegenwind.
Orbán will die EU verändern
Nicht zuletzt unterstützt Orbán Frankreichs Bestrebungen, die Atomkraft als saubere Energie zu etablieren, und macht sich Freunde bei deutschen Automobilfirmen, indem er bei EU-Entscheidungen für deren Interessen eintritt. Dieser „Pfauentanz“, wie Orbán es selbst ausdrückte, hat bislang sehr gut funktioniert. Anders als die polnische PiS-Regierung hat Orbán nie einen direkten Kampf gegen die EU geführt. Er will die EU nicht verlassen, er will sie verändern.
Mithilfe neuer Bündnisse rechtsradikaler Parteien in Europa hoffen Orbán und PiS-Chef Jarosław Kaczyński, ihre Regierungsgewalt und ihre Erfahrung mit westlichen radikalen Parteien zu bündeln, um die Richtung der EU-Politik zu ändern und sie zu nötigen, Autokraten unter ihren Mitgliedern zu akzeptieren.
Orbáns jüngste Treffen mit Frankreichs Marine Le Pen und Éric Zemmour deuten ebenso wie seine Unterstützung für Polens Mateusz Morawiecki und Italiens Matteo Salvini darauf hin, dass bald eine rechtsradikale politische Gruppe an die Öffentlichkeit treten wird. Ich gehe davon aus, dass sie noch vor den Wahlen in Ungarn zustande kommen wird, um Wählerinnen und Wählern zu beweisen, dass Orbán und seine Partei keinesfalls zu Außenseitern geworden sind, sondern in Europa eine starke Rolle spielen.
Der Einfluss der Autokraten wird ab diesem Zeitpunkt stärker, lauter und geschlossener sein, vor allem wenn die gemäßigten europäischen Parteien keine bessere Strategie finden, um diese illiberale Macht in die Schranken zu weisen. In dieser Situation muss die EU ihren Werten treu bleiben, klare Grenzen für ihre Mitgliedstaaten setzen und gewährleisten, dass illiberale Regelverletzer nicht in ihrer Gemeinschaft agieren können.
Was auch immer Orbán beabsichtigt, es besteht die Gefahr, dass im Falle einer weiteren Amtszeit Ungarns Mitgliedschaft in der EU zum ersten Mal auf dem Spiel steht.
Aus dem Englischen von Ingo J. Biermann
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