Unernste Corona-Politik: Zynische Opportunisten

Die Mehrheit der Bürger nimmt Corona als Gefährdung nicht mehr ernst und die Bundes- und Landespolitik verweigert ihre Pflicht, die Gesundheit der Leute zu schützen. Das ist fatal – im Sinne des Wortes.

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Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 22.11.2022 | Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Schleswig-Holstein haben die Isolationspflicht bei positiven Corona-Test-Ergebnissen aufgehoben. Wer starke Symptome hat, soll sich krankschreiben lassen und zu Hause bleiben. Alle anderen Positiven können mit Maske das Haus verlassen, auch arbeiten gehen und dabei auf 1,5 Meter Abstand zu anderen achten. Die vier Länder begründen ihr Vorgehen mit einer zunehmenden Basisimmunität der Bevölkerung, mit milden Verläufen, kurzen Infektionswellen und einer niedrigen Hospitalisierungsrate. Die übrigen Bundesländer halten derweil an der Isolationspflicht für Infizierte und Maskenpflicht im öffentlichen Raum und allen gesundheitsbezogenen Einrichtungen fest.

Die vierte Booster-Impfung ist nicht in dem Umfang angenommen worden, wie von den Verantwortlichen erhofft. Nach wie vor sterben wöchentlich über 900 Menschen an oder infolge von Covid. Die mit Long Covid verknüpften heftigen Verläufe haben zugenommen. Eine massive Corona-Winterwelle ist nicht auszuschließen.

Gesundheitsmister Karl Lauterbach (SPD) lehnt den Alleingang der vier Bundesländer beim Aufheben der Schutzmaßnahmen als „verantwortungslosen Fehler ab, der vor allem vulnerable Personen, Alte, Vorerkrankte und alle Bürger, die ohne Alternative eng mit vielen anderen zusammenkommen, gefährdet“. CDU-Chef Friedrich Merz verlangt dagegen, dass Corona im kommenden März für beendet erklärt wird.

Offene Unterstützung aus der Ampel-Koalition für seine Position erhält der Minister auch nicht. Sein Versuch, die kostenlosen Corona-Tests bis zum nächsten Frühjahr zu verlängern, wird in der Regierungskoalition nicht durchgehend unterstützt. Die Gesundheitsforscher, die bisher den Stand der Corona-Epidemie sachkundig und gut begründet in der Öffentlichkeit erläutert haben, schweigen. Die Datenlage ist unübersichtlich. Lauterbach und auch seine fünf Kinder erhalten Morddrohungen. Sie müssen seit einiger Zeit unter Polizeischutz leben.

Jeder Einzelne ist jetzt allein für seinen Schutz verantwortlich

Das Virus ist nun schlicht in den Kanon der hinzunehmenden Infektionskrankheiten eingefügt worden. Neben vielen anderen Gesundheitsrisiken wie Grippe, mit denen alle irgendwie zurechtkommen müssen, gibt es jetzt eben auch noch Corona.

Mit dem sich widersprechenden Vorgehen von Bund und Ländern ist die Republik jetzt dort angekommen, wo demokratiefeindliche Impfgegner, Leute, die die Gefährlichkeit oder gar Existenz des Corona-Virus in Frage stellen, sowie die selbsternannten Verteidiger von angeblich unnötig eingeschränkten Freiheiten in der FDP sie haben wollte. Die Mehrheit der Bürger und die Politik nehmen Corona als Gefährdung der öffentlichen Gesundheit nicht mehr ernst.

Jeder Einzelne ist jetzt allein für seinen Schutz verantwortlich, Schulen, Betriebe, Krankenhäuser und alle anderen in der Öffentlichkeit wirkenden Institutionen müssen jetzt selber sehen, wie sie mit den zunehmenden Personalausfällen wegen höherer Wiederholungs-Infektionen zurechtkommen. Zumal gerade für ein weiteres halbes Jahr die mehrmalige telefonische Krankschreibung für Erkältungskrankheiten verlängert worden ist, die ausdrücklich auch für Corona-Symptome gilt.

Man muss es so hart sagen: Die verantwortlichen Politiker in allen Parteien nehmen ihre Pflicht zur Abwehr von Gefährdungen der Gesundheit aller Bürger in Bezug auf Corona nicht mehr wahr. Aus Furcht vor einem Popularitätsverlust weigern sie sich, das allen Bürgern im Grundgesetz gegebene Versprechen auf körperliche Unversehrtheit durch konsequente Seuchenpolitik einzulösen. Die Politiker in Bund und Ländern zeigen sich mit ihrem untereinander unabgestimmten Verhalten genauso, wie sie ihre radikalen Kritiker sehen wollen: als eine zynische, nur ihren Eigeninteressen verpflichtete Machtelite. Damit wird Vertrauen in den Verfassungsstaat untergraben.

Der Föderalismus wird für landespolitische Machtinteressen missbraucht

Ergänzt wird dieser Befund durch den politischen Missbrauch des Föderalismus für landespolitische Machtinteressen – nun auch in der Corona-Politik. Die Länder erfüllen schon seit Jahren die in ihrer alleinigen Zuständigkeit liegenden Pflichtaufgaben nicht, ihr Krankenhaus- und Versorgungssystem in ein evidenzbasiertes, Effizienz sicherndes und integriertes Gesamtsystem umzubauen, obwohl sie dafür ausreichend Bundesmittel erhalten. Von einer auch nur irgendwie konsistenten Gesundheitspolitik kann in keinem Bundesland die Rede sein.

Der Föderalismus soll, unter dem Schirm einer das ganze Staatswesen sichernden zentralen Steuerungsfunktion des Bundes, regionale Besonderheiten, deren Vorteile und Chancen zur Geltung bringen. Die Länder allerdings missbrauchen ihre Rechte im Föderalismus dazu, in Konkurrenz miteinander, ihre oft kleinkarierten, länderspezifischen Interessen zur Geltung zu bringen.

Mit ihrer destruktiven Politik blockieren sie in der Bildungspolitik seit Jahren jede im Interesse von Schülern, Studenten und Wissenschaft dringend erforderliche Zentralisierung für eine republikweit einheitliche Planung, Entwicklung und Finanzierung der Bildungs- und Forschungslandschaft.

Für die Bewältigung der Folgen der Klimakrise, den ökologischen Umbau aller Lebensbereiche der Gesellschaft, für die Sicherung einer Führungsrolle beim Ausbau der EU und zur Sicherung demokratischer Perspektiven im Systemkrieg wird ein Föderalismus, der zentrales politisches Planen und Entscheiden im Interesse der ganzen Gesellschaft ausbremst, zu einem Klotz am Bein.

Das Verweigern eines immer noch zwingend notwendigen Schutzes aller Bürger vor Corona-Infektionen mit einer republikweit einheitlichen Politik durch Bund und Länder müssen die Bürger mit der Gefährdung ihrer Gesundheit und die Wirtschaft mit hohen Verlusten bezahlen.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

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