Unbotmäßige Provinz: Widerstand beim Doppelkopf
33 Jahre Widerstand haben im Wendland ein einzigartiges Milieu entstehen lassen. Die konservative Landbevölkerung zieht mit linken Aktivisten an einem Strang.
GORLEBEN taz | "Natürlich gibt es nicht viele ländliche Gegenden, in denen der Pfarrer ,Bullen' sagt, und sich nichts dabei denkt", sagt Jost Neumann (Name geändert), ein seit Jahrzehnten aktiver Castor-Gegner aus dem Wendland. Bauern, die militante politische Aktionen gut finden, Hausfrauen, für die ziviler Ungehorsam ein selbstverständliches, jährlich wiederkehrendes Ritual ist, einfache Bürger, die eine tief sitzende Skepsis gegen den Staat hegen - all dies findet sich im Wendland häufiger als sonstwo.
Egal, wie lange der Zug diesmal unterwegs gewesen sein wird: fest steht, dass die Renitenz der lokalen Bevölkerung den Staat und die Atomindustrie am Wochenende erneut vor größte Herausforderungen gestellt hat.
Möglich ist dies nur, weil im Wendland die Landbevölkerung und die teils gemäßigten, teils radikalen Protestler in seltener Eintracht an einem Strang ziehen. Es gibt alte Frauen, die Autonomen den besten Schleichweg zur Schiene weisen, noch bevor die danach gefragt haben, und Bauern, die ohne zu zögern mit ihren Landmaschinen Barrikaden verstärken, obwohl gleichzeitig die Steine fliegen. "Konservatismus und Renitenz schließen sich ja nicht aus", sagt Neumann, der auf seinem Hof in der Nähe der Schienen jedes Jahr ein Camp für die Castor-Gegner unterhält.
Als der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht in den 1970er-Jahren entschied, einen riesigen Nuklearpark am Elbufer anzusiedeln, war die unmittelbare Nähe zur DDR-Grenze nur ein Faktor. Die Menschen würden sich nicht wehren - zu konservativ, zu CDU-treu sei die Bevölkerung, dachten viele. Sie irrten sich.
Schon vor Bekanntwerden der Endlagerpläne habe die Region "Intellektuelle und Aussteiger" angezogen, sagt Neumann. Doch das Verhältnis zu den "langhaarigen Spinnern" sei anfangs oft "sehr angespannt gewesen". Die "subkulturelle Verschränkung", das Ineinandergreifen völlig unterschiedlicher Milieus sei ein Ergebnis jahrzehntelangen Aufeinanderzugehens. "Das war keine Liebe auf den ersten Blick", sagt Neumann.
Als sich die bis heute tätige Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg einst in den Trebeler Bauernstuben gegründet hatte, sei "stunden- und tagelang um den richtigen Weg gerungen" worden. Lokale Bürger und Bauern, weggezogene Wendländer und radikale, politisch motivierte Umweltschützer hätten lange nach einer "gemeinsamen Sprache" suchen müssen.
Die fand sich über die politischen Erfahrungen. "33 Jahre Lug und Trug" der Politik seien daran Schuld, sagt Neumann. Immer wieder seien die Leute belogen worden. Spätestens als der grüne Umweltminister Jürgen Trittin 2001 den "ersten grünen Castor" herschickte, seien "die letzten grünen Illusionen" geplatzt. "Irgendwann wurde den Leuten hier klar: Es ist ganz egal, wie die Wahlen ausgehen, an unserem Problem ändert sich nichts."
2005 stellte eine Gruppe um Neumann "Frau Niemand" für die Bundestagswahl auf. "In unserem Zählbezirk haben 20 Prozent der Wähler ihr Kreuz bei der Kandidatin der Wahlboykott-Kampagne gemacht."
Widerstand gehe immer einher mit "Besuch aus der Stadt, mit jungen Leuten, die sich wild gebärden und einiges reißen", sagt Neumann. Anfangs habe man den Nachbarn immer Rede und Antwort stehen müssen. Heute sei es nicht mehr so schwierig, das zu vermitteln. "Das war ein Lernprozess", sagt Neumann.
Der Lernprozess vollzog sich in vielen kleinen Schritten. Neumann erinnert sich, dass in den Achtzigerjahren eine "Gruppe von Freaks" eine abgebrannte Bauernkneipe restaurierte, "und die sah hinterher genauso aus wie vorher". Die erst skeptischen Bauern seien überrascht gewesen und "die Freaks haben dann mit denen Doppelkopf-Turniere gemacht". So sei man sich näher gekommen und irgendwann "hat man dann beim Doppelkopf darüber diskutiert, wo man am besten die Bäume umsägt und in welcher Bauernwerkstatt man die Krähenfüße macht, wenn der Atommüll kommt".
All dies bedeute nicht, dass es im Wendland niemanden mehr gebe, der nichts gegen Atomkraft habe. "Klar gibts die und klar geht man zu denen auch auf die Silberhochzeit. Es ist hier halt ein Dorf", sagt Neumann.
Für Uli Helmcke von der "Bäuerlichen Notgemeinschaft" ist der Widerstand gegen den Atommüll eine Selbstverständlichkeit. "Meinen Hof habe ich in der elften Generation. Ich will, dass der auch in der 30. Generation noch existiert", sagt er. "Ich kann nicht einfach umziehen, mein Acker ist hier."
Helmcke erklärt sich die Langatmigkeit und Einträchtigkeit des Protests so, dass "Bauern gelernt haben, über Generationen zu denken: Den Baum, den ich heute pflanze, der bringt meinem Kind nichts, sondern erst meinem Enkel. Dieses Denken hat sich auf die Stadtmenschen in der Gegend übertragen", glaubt Helmcke.
"Die Regierung" sei da anders: "Da wird entschieden und dann in Pension gegangen." Wenn er "nicht so gebunden" wäre, würde er auch gerne an anderen Aktionen teilnehmen, sagt Helmcke. Doch "wenn ich wegen einer Straftat ins Gefängnis gehe, dann verliere ich meinen Hof".
Das hat ihn nicht immer abgeschreckt. 2005 hat sich Helmcke rund 13 Stunden in einer Betonpyramide angekettet. "Das waren die schönsten 13 Stunden meines Lebens, weil man weiß, man bewirkt etwas."
Mitarbeit: Annika Stenzel
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