Unbekannte Orte (4): Das Labyrinth der Gefühle

Millionen Touristen haben das Holocaust-Mahnmal schon besichtigt. Millionen Berliner noch nie. Eine der standhaften Ignorantinnen gibt nach und steigt in das Stelenfeld

Die Stein gewordene Erinnerung Bild: dpa

"Denkmal für die ermordeten Juden Europas" steht auf dem blauen Wegweiser. 600 Meter sind es vom Potsdamer Platz bis zur Hannah-Arendt-Straße und dem Rand des Stelenfeldes.

Mehr als zwei Jahre ist die Eröffnung dieses Ortes mitten im Zentrum schon her - ich bin nie hingegangen. Irgendwann, das war der Plan, würden Freunde auf Berlintrip den Ort auf ihrem Touristenprogramm haben, derlei wäre dann anschlussfähig gewesen. Aber nie kam es dazu. Die Gäste wollten lieber tagsüber quatschen und essen und shoppen und abends noch ins Theater. Sechs Millionen ermordeter Jüdinnen und Juden gedenken - keine Kleinigkeit, die man zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer-Platz-Shopping einschieben könnte. Nun also allein.

Das Feld wirkt leer auf den ersten Blick. Hin und wieder lugt ein Basecap über den kantigen Horizont hervor, Hände, die eine Kamera halten, 41 Bäume ragen in den Himmel. Man geht hinein ins Labyrinth, fühlt den dunkelgrauen Beton, ganz warm von der Sonne. Der Boden senkt sich in leichten Wellen ab, links ist ein Piktogramm für Rollstuhlfahrer in den Boden eingelassen: Hier gehts lang. Es wird kühl und schattig.

Das sagt Berlin.de: "Die 0,95 Meter tiefen und 2,38 Meter hohen Pfeiler werden durch einen unterirdisch angelegten Ort der Information ergänzt. Dort wird auf ca. 800 Quadratmetern die notwendige Aufklärung über die zu ehrenden Opfer und die authentischen Stätten des Gedenkens gegeben."

Das sagt der "Lonely Planet": "Das Denkmal wirkt auf den ersten Blick nüchtern und emotionslos, doch mit der Zeit entfalten die Anordnung, die kalten Steine und das Zusammenspiel von Licht und Schatten ihre Wirkung."

Öffnungszeiten: Das Mahnmal ist rund um die Uhr zugänglich, der unterirdische Ort der Information täglich von 10 bis 20 Uhr.

Kommenden Freitag: Martin Reichert über den Kreuzberg

Jetzt müsste es aber mal kommen, dieses Gefühl der Beklommenheit, das man verspürt beim Betreten der Synagoge in der Oranienburger Straße oder beim Gang durch das Tor von Sachsenhausen, beim Blick in den Lichthof des Jüdischen Museums. Aber es kommt nicht. Dafür ist hier viel zu viel los. Man hört Kinder, die "Such mich!" rufen. Scharf vor einem bricht eine Gruppe junger Spanier von rechts nach links durchs Bild. Vorn mahnt eine Mutter ihren Sohn: "Leon, das ist hier kein …", sie bricht ab. "Spielplatz", wollte sie sagen.

Tatsächlich ist der Erlebnisfaktor hier, mitten im Denkmal für die ermordeten Juden Europas, überraschend hoch. Der Eindruck einer besonders geilen, besonders teuren begehbaren Installation drängt sich auf: das Dunkelgrau der 2.711 Stelen, das Lichtgrau des Bodens, darüber der blaue Himmel und am Horizont das oxidierte Kupferdach des Hotel Adlon. Berlin is ne Wolke! Scheiße, denke ich, so geht das doch nicht. Ich weiß doch, worum es hier gehen soll. Um Gedenken. Aber dieser Ort sagt dazu nichts, er verweigert die Kommunikation zu jenem bitteren Thema, das er doch setzt. Später wird man erfahren, dass Peter Eisenman seinen Entwurf einen "Place of no meaning", einen Ort ohne Bedeutung, genannt hat.

Für Besucher, die der Wunsch nach Auseinandersetzung, nach Information hierher, in den ehemaligen Grenzstreifen getrieben hat, hat das Stiftungskuratorium den Ort der Information gebaut. Zum Glück. 20 Minuten Schlangestehen und eine Sicherheitsschleuse später stehe ich in den klimatisierten Räumen unter dem Stelenfeld.

Endlich eine ernsthafte Ruhe. Die Besucher stehen und lesen die Texttafeln an den Wänden. Sie schauen Menschen ins Gesicht, deren Fotos riesig an der Stirnwand hängen. Es sind Tote, Opfer. Ermordet von den Deutschen. Sie studieren den Abschiedsbrief der zwölfjährigen Judith Wischnjatskaja. "Ich habe solche Angst vor diesem Tod", schreibt sie an ihren Vater, "denn die kleinen Kinder werden lebend in die Grube geworfen." Oder Oskar Rosenfelds Tagebucheintrag: "Wenn so etwas möglich war, was gibt es dann noch? Wozu noch Welt?"

Das Gefühl ist nun da. Die Beklommenheit. Die immer aufs Neue bittere Gewissheit, dass all dies, wovon hier berichtet wird, geschehen konnte. Die Trauer ist leise von der Seite herangetreten. Sie hält einen sanft: Schau hin! Am Ausgang liegt das Gästebuch. Sören aus Baden-Baden hat heute geschrieben: "Man kann in Worten nicht sagen, was man hier für Eindrücke erlebt. Anna musste fast weinen."

Wieder draußen, am Rande des Stelenfeldes, warten Jugendliche darauf, in die Ausstellung gelassen zu werden. Einige halten den Platz in der Schlange besetzt, die anderen holen rasch bei Bäcker Kamps, gleich auf der anderen Straßenseite, was Süßes. Die "Sommerfrischen Minischnecken" sind grad im Angebot, "im günstigen 5er Pack nur 1,99 EUR", steht groß draußen dran. Man könnte kotzen.

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