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Unbekannte Orte (16)Erinnerungen ans alte Westberlin

Millionen Touristen waren schon in der Gedächtniskirche, Millionen Berliner noch nie. Eine der Ignorantinnen gibt nach. Für die taz besucht sie einen Ort der Stille mitten im Trubel.

Diese bekannte Ruine neben diesem bekannten Stern Bild: Reuters

Ein Sonntag muss es sein. Im wahrsten Sinne des Wortes. "Bei gutem Wetter fällt das Licht da so schön rein", hat mir eine Freundin gesagt. Wenn schon Gedächtniskirche, dann also an einem sonnigen Tag. Wie diesem: Touristen flanieren, sonnenbrillengeschützt, über die Tauentzienstraße; Rentnerinnen löffeln im Schatten der Sonnenschirme Eisbecher vor dem Europa-Center; zwei Mädchen haben die Kleider hochgekrempelt und toben rund um den Springbrunnen. Auf dem sechseckigen Glockenturm der Gedächtniskirche glänzt in der Sonne ein goldenes Kreuz.

Dass ich die Gedächtniskirche nie betreten habe, wundert mich selbst. Schließlich hielt ich die Ecke um den Bahnhof Zoo lange Zeit - irrtümlicherweise - für das Zentrum der Stadt. Mein Vater, in Westberlin aufgewachsen, steht dem Ostteil der Stadt bis heute skeptisch gegenüber. Bei den regelmäßigen Berlinbesuchen kutschierte er uns begeistert von (Westberliner) Sehenswürdigkeit zu (Westberliner) Sehenswürdigkeit: Wannsee, Teufelsberg, KaDeWe, Zoo. Die Gedächtniskirche muss ich irgendwie verpasst haben. Nachgeholt habe ich das nie.

Als ich jetzt auf dem Breitscheidplatz stehe, merke ich, dass ich schon lange nicht mehr in diesem Teil Berlins war. Sehr lange. Dabei hat sich nicht viel verändert: Vom Europa-Center leuchtet Reklame, gelbe Doppeldecker- und rote Touristenbusse ziehen in rascher Folge vorbei, und die Pavillons mit ihren Markisen erinnern mich noch immer an die Modellbahnhäuser, die ich von meinem Großvater geerbt habe.

Die Gedächtniskirche

Das schreibt berlin.de: "Nach Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde die Turmruine als Mahnmal gegen den Krieg gesichert. Das Gotteshaus aus Sandstein war einst 113 Meter hoch und innen mit Mosaikschmuck versehen."

Das schreibt der "Lonely Planet": "Die Ruine des Westturms der neoromantischen Kirche (Spitzname ,Hohler Zahn') zählt zu den eindrucksvollsten und beständigsten Wahrzeichen Berlins."

Öffnungszeiten: täglich von

9 bis 19 Uhr

Aber ruhig ist es geworden. Eine Reisegruppe verdrückt im Schatten der Kastanien die mitgebrachten Vesperbrote, ab und zu schlendert ein Pärchen zur Kirchenruine. Ziemlich wenig los am vielleicht bekanntesten "Wahrzeichen des Westteils der Stadt". Vielleicht liegt es am Sonntag. Oder daran, dass nur noch jene Touristen herkommen, die versehentlich einen Reiseführer älteren Datums erwischt haben.

Das Geschrei nervt. Auf der anderen Seite der Tauentzienstraße, vor der H&M-Filiale, kreischt eine unsichtbare Frau ins Mikrofon. Ein japanisches Pärchen, das gerade sein Kleinkind in die Kamera hält, schaut irritiert auf. Eine Werbeveranstaltung? Ein versteckter Rummelplatz? Jedenfalls zu laut. Ich versuche, den Lärm zu ignorieren, und steige auf den Sockel, der die Kirchenruine und ihre Nebengebäude trägt. Kreisrunde Steine in allen Größen auf dem Boden. Die gekappte Spitze des alten Turms wirft einen gezackten Schatten. Ich starre in den hohlen Bauch der Kirche: Wie eine stämmige Frau steht sie da, den Rock geschürzt, breite Metallreifen halten die gemauerten Schenkel zusammen. Kaiser Wilhelm hat die Kirche erbauen lassen, steht auf einer Tafel, ein Luftangriff hat sie im Krieg zerstört. Die Ruine blieb stehen, als Mahnmal für den Frieden.

Die Gedenkhalle in der Ruine ist jeden Tag von 10 bis 16 Uhr geöffnet - außer Sonntags. Ich drücke mich an die Glasscheibe und spähe hinein. An der Decke Mosaike, ein Kreuz, Postkartenständer. Gegenüber ist der Eingang zur neuen Kirche. Der Architekt Egon Eiermann hat in den Sechzigern die Bauten entworfen, die sich nun um die Ruine drängen: eine Kappelle, den Glockenturm, das Kirchengebäude. Sechseckig, klobig, grau. Wenig einladend. Kaum habe ich die Kirche betreten, ist alles anders: Durch unzählige blaue Fenster fällt dämmrig das Licht herein, in einer Seitennische flackert eine Pyramide aus weißen Kerzen. Zwei Sträuße aus hohen Schnittblumen wachen neben dem Alter, ebenerdig. In der ersten Stuhlreihe hat sich ein älteres Paar niedergelassen. Vor allem aber ist es still. Ansteckend still. Unwillkürlich trete ich leiser auf. Hinter mir tritt ein spanisches Pärchen durch die Tür, bekreuzigt sich, dämpft die Stimmen. Nur Flüstern, das Scharren der Füße auf dem Steinboden. Ein Mann hält seine Digitalkamera vor sich, die Kamera klackt, ihr Besitzer zuckt zusammen. Dann herrscht wieder Stille.

Durch die dämmrige Vorhalle trete ich, blinzelnd, wieder zurück in die Stadt. Ein leichter Wind zupft an den Blättern der Kastanien. In ihrem Schatten döst ein junger Mann mit Strohhut auf seinem Klappstuhl, vor sich Porträts zum Verkauf ausgebreitet: Skizzen von Frauengesichtern, lachenden Babys, Marilyn Monroe. Auf der anderen Straßenseite hat jemand die Lautsprecher leiser gedreht.

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