Umweltaktivist über Tschernobyl: "Politiker reden alles klein"
In Siegfried Rumbaums Garten steht seit 25 Jahren eine Tafel mit Strahlenwerten. Der Aktivist ist überzeugt, dass die Berliner nach Tschernobyl über die tatsächliche Belastung belogen wurden.
taz: Herr Rumbaum, in Ihrem Garten in Britz steht seit 1986 eine Informationstafel, auf der Sie über die Strahlenbelastung informieren, der Berlin nach dem Unfall in Tschernobyl ausgesetzt war. Wie kam es dazu?
Siegfried Rumbaum: Ich war damals sehr verunsichert und hatte das Gefühl, dass alles verharmlost wurde. Als ich im Juni 1986 in der Fachzeitschrift "Sicher ist Sicher" einen Artikel zum Thema Arbeitsschutz und Tschernobyl entdeckte, wurde ich hellhörig. Die Zeitschrift wird vom Senator für Gesundheit und Soziales herausgegeben. In dem Artikel ging es hauptsächlich um das Isotop Jod-131, das durch den Reaktorunfall vermehrt in der Atmosphäre auftrat. Von offizieller Seite und auch in den Medien wurde immer wiederholt, Jod-131 hätte eine Halbwertzeit von acht Tagen und dass demzufolge die Strahlenbelastung innerhalb kurzer Zeit vorbei sei. In dem Artikel wurde aber geraten, zum Beispiel Luftfilter nach dem Unfall möglichst zwei Monate lang nicht auszuwechseln.
Was bedeutet das genau?
75, ist Umweltaktivist der ersten Stunde. Im Garten des pensionierten Heizungsbauers und -technikers steht seit 25 Jahren eine Infotafel. Darauf informiert er über die Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl am 26.4.1986. Der verwitwete Sozialdemokrat war Mitbegründer des SPD-Arbeitskreises Umweltschutz, engagiert sich seit vielen Jahren im Britzer Umweltforum und ist Mitglied im BUND. Rumbaum und seine Mitstreiter kämpften Ende der 1980er Jahre erfolgreich gegen den Bau einer in Neukölln geplanten Müllverbrennungsanlage.
Das heißt, dass die Strahlendosis viel höher gewesen sein muss, als uns gesagt wurde. In dem Artikel stand auch, dass sich Jod-131 zu 90 Prozent in den Schilddrüsen von Menschen und Tieren ansammelt, und dass das zu erheblichen Problemen auf dem Berliner Schlachthof geführt hat: Dort wurden täglich 300 Tiere geschlachtet. Aufgrund der hohen radioaktiven Belastung von 6.800.000 Becquerel/kg mussten die Schilddrüsen dieser Schlachttiere entnommen werden. Wenn die Werte bei den Schlachttieren so hoch waren, mußten sie doch bei der Bevölkerung ebenfalls extrem angestiegen sein. Wie hoch aber die tatsächliche Belastung war, wie viel Becquerel auf uns einwirkten, das erfuhr man nie.
Sie behaupten also, dass die Bevölkerung damals in falscher Sicherheit gewiegt wurde?
Ich hatte den Verdacht und wollte es genauer wissen. Also hob ich unsere Staubsaugerbeutel auf und brachte sie im September 1986 - fünf Monate nach dem GAU - zur mobilen Strahlenmessstelle. Das Ergebnis für Jod-131 war etwa 5 Bq/kg. Über die Halbwertzeit zurückgerechnet heißt das, dass der Staub aus unserer Wohnung ursprünglich eine Strahlenbelastung von 2.500.000 Bq/kg enthielt. Der amtliche Grenzwert in Deutschland liegt allerdings bei 600 Bq/kg.
Was machten Sie mit diesen Ergebnissen?
Ich stellte im November 1986 mit Hilfe einer Abgeordneten eine kleine Anfrage im Abgeordnetenhaus zum Atomunfall und seinen Folgen für uns hier in Deutschland. Besonders die Anreicherung von Radioaktivität im Menschen und in seinen Organen machte mir Sorgen. Die Antwort des Senats enthielt nur Beschwichtungen und Verweise darauf, dass viele Untersuchungen noch im Gange seien. Zum Beispiel gab es damals in Berlin noch kein Krebsregister, anhand dessen man eventuelle Steigerungen von Krebsraten hätte belegen können. Es hat sogar noch bis 1994 gedauert, bis man ein solches Register eingeführt hat.
Sie engagieren sich ja nicht erst seit 1986 für den Umweltschutz...
Nein, das ging schon viel früher los, als die Luftverschmutzung ein ganz großes Problem war. Wir hatten auch in Berlin öfter "dicke Luft". Für mich als Heizungsbauer war das natürlich schon durch meinen Beruf ein wichtiges Thema. Gerade in den Wintermonaten kam es, auch durch die vielen Ofenheizungen, immer wieder zu sehr hohen Schwefeldioxid-Konzentrationen in der Luft. Bevor der Senat 1977 die erste Berliner Smogverordnung erließ, gab es sogar Todesfälle aufgrund der starken Luftverschmutzung. In den 1980er Jahren gab es dann häufiger Smogalarm, in manchen Jahren mehrfach. Ich habe mir damals alle Messwerte des sogenannten Luftgüte-Netzwerkes besorgt, die waren zum Teil besorgniserregend. Wir vom Britzer Umweltforum haben versucht, dafür mehr Öffentlichkeit zu schaffen.
Wird man von all dem Aktivismus nicht irgendwann müde?
Das Unglück von Tschernobyl war für mich ein entscheidender Einschnitt. 1987 kamen verschiedene Kinderärzte unabhängig voneinander zu der Überzeugung, dass sich die Zahl der Kinder mit "Trisomie 21" verdoppelt hat. Ein Kinderarzt aus München informierte gar das Bundesgesundheitsamt. Als das an die Öffentlichkeit kam, haben alle laut aufgeschrieen, das könne alles gar nicht stimmen. Ich fühlte mich persönlich betroffen, als meine Enkeltochter 1987 mit einer Missbildung zur Welt kam, glücklicherweise konnte sie operiert werden. Eine Schulkameradin von ihr starb 1997 mit zehn Jahren an Leukämie. Vor wenigen Jahren ist dann auch noch mein Stiefsohn an der Schilddrüse erkrankt. Er hat immer schon gern und reichlich Milch getrunken. Nach dem Atomunfall wurde ja gerade auch vor dem Verzehr von Milchprodukten gewarnt. Also versuchten wir, Sojamilch zu bekommen, die es damals noch nicht überall zu kaufen gab.
Was hoffen Sie denn mit Ihrem Einsatz zu erreichen?
Klarheit! Damals wie heute wollen wir Auskünfte über die wirklichen Risiken für uns und unsere Familien. Die Fragen von damals sind auch die von heute. Aber die Politiker haben uns mit ihrer Rederei ganz besoffen gemacht. Die reden alles klein und verharmlosen alle Risiken. Mit der Infotafel konnte ich wenigstens meine Nachbarn warnen.
Und heute? Fast genau 25 Jahre nach Tschernobyl kam es in Fukushima wieder zu einem verheerenden Atomunfall. Denken Sie, dass die Politik aus den Fehlern gelernt hat?
Das bleibt nur zu hoffen. Immerhin hat die Bundesregierung jetzt den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Wie konsequent und schnell das umgesetzt wird, bleibt aber abzuwarten.
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