Umstrittener Stoff: Das Grabtuch von Turin
Ob die Naturwissenschaft nun recht behält oder der Glaube obsiegt – egal, das Grabtuch wirkt. Eine Pilgerfahrt von Rosenheim nach Turin.
TURIN taz | "Avanti! Avanti!" Die Aufpasser kennen keine Gnade. Zwei, drei Minuten höchstens darf man hier im Dom von Turin auf ein schlichtes, etwa vier Meter langes Tuch schauen, aufgehängt in drei Metern Entfernung wie ein Bild, geschützt durch Panzerglas, drapiert mit rotem Samt. Dann drängen einen die Helfer, vor allem aber weitere Pilger fort. An Konzentration, Andacht gar ist nicht zu denken. Denn andere Gläubige wollen das Textil sehen, Zehntausende jeden Tag, Millionen bis Ende Mai. Bei den letzten Ausstellungen 1998 und 2000 kamen über fünf Millionen.
Sie alle strömen herbei, ein Wunder zu bestaunen - ein Wunder der Fälscherkunst, sagen die einen, ein Wunder des Glaubens die anderen. Das Grabtuch von Turin ist das wohl umstrittenste Stück Stoff der Geschichte. Der Überlieferung nach lag darin der gekreuzigte Jesus, seine Gesichtszüge und der zu Tode gefolterte Leib des Gottessohnes sind darauf zu sehen, meint der Glaube. Die Wissenschaft hält das Tuch spätestens seit 1988 zumeist für eine geschickte Fälschung, entstanden zwischen 1260 und 1390. Sie hat sehr gute Argumente.
Doch was zählen Argumente, wenn der Glaube sie nicht annehmen will? Wie bei der Rentnerin, die an einem Morgen gegen acht Uhr vor dem Bahnhof von Rosenheim in Oberbayern steht. Zusammen mit acht anderen Reisenden eher höheren Alters wartet sie auf den Bus nach Turin. Ungefragt sagt sie, dass das Leinen natürlich echt sei. Die Wissenschaftler, die das Tuch 1988 mit einem Radiokarbontest, also der Menge an Kohlenstoff-14 in den Fasern des Tuchs, datierten, hätten sich geirrt: Man habe ein verschmutztes Stück oder gar ein ursprünglich nicht zum Grabtuch gehörendes Stück analysiert - deshalb diese Datierung, deshalb die Legende einer Fälschung. Außerdem, vermutet sie überraschend, wolle die Kirche, dass das Tuch als Fälschung gelte, damit es nicht geklaut werde. Schließlich hätten "sie" - unklar bleibt, wer "sie" sein soll - es ja schon zu verbrennen versucht.
Dann kommt der Bus. Organisiert hat die Wallfahrt das konservativ-klerikale Nachrichtenportal kath.net aus Österreich. Von dort kommen die meisten der über 50 Pilger, die den Bus füllen. Die Stimmung ist aufgeräumt, manche kennen sich von früheren Wallfahrten, vier Geistliche sind auch dabei.
Am Sonntag reiste Papst Benedikt XVI. nach Turin, wo das Tuch seit 1578 aufbewahrt wird. Es gilt als kostbarste Reliquie des Christentums und wird normalerweise nur alle 25 Jahre gezeigt. Doch nach dem Heiligen Jahr 2000 ist es nun das zweite Mal seit 1998, dass es außer der Reihe gezeigt wird. Es soll bis zum 23. Mai zu sehen sein. Die Turiner Erzdiözese erklärte gestern, dass das Tuch erneut untersucht werden solle. (dpa)
Irgendwo in den Alpen fordert einer der Gottesmänner die Pilger auf, ein Marienlied auf Latein zu singen, über "Regina coeli", die Königin des Himmels. Aber ganz so marienfromm ist die Truppe doch nicht, nach der ersten Strophe steigen die meisten wegen allzu großer Textlücken aus. Dafür sollen alle bald über das Busmikrofon erklären, warum sie das Tuch anschauen wollen. Dass es echt ist, daran zweifelt hier offenbar niemand. Eine Frau sagt emphatisch, dass sie ihre mitreisende Freundin liebe. Als einige kichern, fühlt sie sich genötigt zu ergänzen, "aber normal".
Vor der Ankunft ist noch Zeit, auf den Bildschirmen des Busses eine Dokumentation über das Tuch anzuschauen. Darin werden die Hauptargumente für die Authentizität noch einmal sauber referiert - und auch die sind nicht schlecht: So ist nach mehr als hundert Jahren Forschung unbestritten, dass das Tuch nicht bemalt wurde. Nach wie vor ist ungeklärt, wie die Spuren eines offenbar totenstarren Mannes um die 30 auf das Leinen gekommen sind, zumal es sich um eine Art dreidimensionales Abbild handelt, also keines, das durch die Auflage auf den Körper perspektivisch verzerrt ist. Die Wunden auf dem Tuch entsprechen exakt den Evangelien: Zu sehen sind die Wunden der Dornenkrone, die wohl eher eine Dornenhaube war, die Geißelspuren am Rücken, die blutigen Schultern vom Querbalken des Kreuzes, die Wunde an der Seite durch die Lanze des Legionärs, der Jesus durchbohrt haben soll. Es gibt Blutreste, auch auf Leichenflüssigkeit deutet einiges hin.
Die Spuren an Füßen und Händen durch die offenbar dort hineingetriebenen Nägel sind besonders beeindruckend. Denn die Wunden an den Handwurzeln entsprechen eher den neueren archäologischen Befunden darüber, wie zur Zeit Jesu Verurteilte ans Kreuz genagelt wurden. Der Fälscher zwischen 1260 und 1390 müsste gewusst haben, dass dies die Kreuzigungsart war, nicht die, die in der christlichen Kunstgeschichte bis heute zu sehen ist - das Hineintreiben der Nägel durch die Handteller. Auch das Pollen-Argument referiert der Film: Demnach wurden im Leinen Pflanzenpollen gefunden, die nur im Raum Jerusalem zu finden sind, nicht in Südfrankreich, wo das Tuch 1389 erstmals erwähnt wurde. Seitdem hat es Frankreich und Italien nicht verlassen - wie also kommt dieser Pollen aufs Tuch, wenn es eine Fälschung ist?
Auf Wunsch der Pilger feiern die Priester nach der Ankunft im Hotel eine Messe. Es geht fromm zu, viele nehmen die Hostie nicht in die Hand, die meisten knien bei der Wandlung auf dem Steinboden. Einer der Priester sieht das Tuch nicht nur als Grabtuch, er sieht es als Zeichen für die Auferstehung, denn nur so, deutet er, könne das "dreidimensionale" Abbild auf das Leinen gekommen sein, mithilfe des Energiestoßes der Wiedererweckung. Es ist derselbe Geistliche, der während der Fahrt mehrmals dazu aufgefordert hatte, für den Papst zu beten, der die Kirche "gut", ja "großartig" führe. Die Truppen Benedikts mögen in Mitteleuropa klein geworden sein, hier ist ein Teil versammelt.
Am nächsten Morgen muss sich die Gruppe trotz reservierter Eintrittskarten in eine fast kilometerlange Schlange einreihen. Vielleicht liegt es an den Rufen wie "Avanti!" oder "No Flash!" - übermäßig pietätvolle Stimmung kommt auch dann nicht auf, als die Pilger vor dem Tuch stehen. Danach ist Freizeit, aber das Bedürfnis nach Spirituellem ist bei vielen so groß, dass sie lieber noch andere Kirchen anschauen, anstatt die Stadt zu erkunden. Da einer der Geistlichen ein Pater der Salesianer Don Boscos ist, besuchen die Pilger noch den Stammsitz des vor allem in der Jugendbildung weltweit tätigen Ordens - dessen sogenanntes Mutterhaus ist ein Komplex von Schulen, Unterkünften und Kirchen. Kinder aus aller Welt toben lachend über die Innenhöfe, so heiter und schön kann die Kirche auch sein.
Mitten in der Nacht gibt es überraschend die Möglichkeit, das Grabtuch noch einmal zu sehen. Nur eine vierköpfige Gruppe hat dank rudimentärer Italienischkenntnisse herausgefunden, dass ab halb elf die Chance besteht, sich einer Nacht der Meditation für junge Leute anzuschließen. Die Sache klappt, der Dom ist brechend voll.
Meditative, moderne Töne erklingen. Ab und zu erschwert eine Rückkopplung die Einkehr, aber selbst der alte Kardinal auf seinem Thron vor dem Altar erträgt stoisch den Sakro-Pop. Die "Avanti! Avanti!"-Rufe verstummen, die vier deutsch-österreichischen Pilger können sich keine drei Meter vor dem Tuch neben die lässigen Jungitaliener hocken. Auf einmal sind zweieinhalb Stunden Zeit, das Grabtuch in Ruhe zu betrachten. Und so entfaltet das schlichte Tuch aus Flachsfasern seine Wirkung. Oder sind es nur die Müdigkeit und der sanfte Gesang, der einen fast hoffen lässt, die Kohlenstoffuntersuchung von 1988 könnte durch die zwei Brände verfälscht worden sein, denen das Tuch seit 1389 ausgesetzt war? Eine These, die selbst seriöse Forscher vertreten. Vielleicht wurde ja wirklich ein später aufgesetzter Flicken analysiert? Oder eben nur die Verunreinigungen späterer Jahre? Die Wahrheit ist ein Hauch, so zart wie die Spuren des Mannes auf dem Tuch, nur der Glaube gibt Sicherheit.
Am nächsten Morgen geht es über die Alpen zurück. Im Bus werden Rosenkränze gebetet. Der Salesianer-Pater erzählt von der Bekehrung eines wilden jungen Kerls, der bei ihm gebeichtet habe. Ob er noch lebe, wisse er nicht. Der Pater muss vor Rührung weinen. Als sich an einer Raststätte das erste Ehepaar verabschiedet, sagt der Ehemann über das Mikrofon: Er sei ja manchmal ein "ungläubiger Thomas", jetzt aber glaube er an das Grabtuch. Er wirkt erleichtert.
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