: Umstrittene Amnestie in Nicaragua
Stichtag 15. August: Straferlaß für Aufständische / Auch Esteli-Rebellen genießen Straffreiheit / Zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen in ländlichen Gebieten ■ Aus Managua Ralf Leonhard
Zählt das Leben von ein paar Dutzend Bauern weniger als das eines Wirtschaftsbosses? Um diese Frage ging es vordergründig, ehe die nicaraguanische Nationalversammlung am Dienstag ein neues Amnestiegesetz verabschiedete. Im vergangenen Monat war allen Aufständischen Straferlaß angeboten worden, die bis Ende August ihre Waffen abgeben. Präsidentin Violeta Chamorro hofft, auf diesem Wege die bewaffneten Auseinandersetzungen in den ländlichen Regionen unter Kontrolle zu bringen.
Ihr Gesetzesentwurf, der nach dem Ende der Parlamentsferien als erster Punkt auf der Tagesordnung stand, sah zunächst Straffreiheit für alle vor dem 12. Juli in den Konfliktregionen begangenen politisch motivierten Verbrechen vor. „Das ist das dritte Amnestiegesetz in drei Jahren“, war die Reaktion des christdemokratischen Abgeordneten Duilio Baltodano. „Wer wird hier Recht und Ordnung respektieren, wenn er immer mit einer Amnestie rechnen kann?“
Die Abgeordneten der konservativen UNO-Allianz, die die parlamentarischen Abstimmungen und meistens auch die Debatten boykottieren, seit sie zu Jahresbeginn den Vorsitz in der Nationalversammlung abgeben mußten, erschienen auch diesmal nur im Plenarsaal, um ihre Ablehnung zu manifestieren. Zwar befürworten die Parteien der konservativen Koalition prinzipiell eine Amnestie. Aber die meisten Politiker wollen zumindest den Chef der „Linken Bestrafungsfront“ (FPI), den ehemaligen Armeeoberstleutnant Frank Ibarra, ausgenommen wissen. Ibarras linke Untergrundorganisation hatte im vergangenen November Arges Sequeira, den Vorsitzenden einer Großgrundbesitzervereinigung, ermordet.
Dieser Fall hatte im Vorfeld der parlamentarischen Amnestiedebatte zu heftigen Auseinandersetzungen und Polemiken geführt. „Das war kein politisches Attentat, sondern gemeiner Mord“, argumentierte Ramiro Gurdian, der als Chef des Unternehmerverbandes einer der einflußreichsten Gegner einer Generalamnestie war. Für Vilma Nuñez, die Direktorin des den Sandinisten nahestehenden Menschenrechtsbüros CENIDH, spricht aus dieser Position Klassenjustiz: Warum sollten nur die rechten Rebellen, die Re-Contras, die in den letzten Monaten Dutzende von Bauern ermordeten, in den Genuß des Straferlasses kommen?
Da Chamorros ursprünglicher Entwurf den 12. Juli als Stichtag vorsah, hätten die linken Rebellen der „Revolutionären Arbeiter- und Bauernfront“ (FROC), die am 21. Juli die Stadt Esteli einnahmen und in den dortigen Banken fast eine Million Dollar erbeuteten, nicht von der Amnestie profitiert. „Wenn wir ausgenommen werden, dann geht der Krieg weiter“, ließ deren Anführer „Pedrito der Honduraner“ wenige Tage vor der Abstimmung in einem Interview wissen. „Auch die Parlamentarier, die gegen die Amnestie stimmen, müssen dann mit Attentaten rechnen.“
Die Parlamentarier, die nach dem Auszug eines Großteils der UNO-Abgeordneten im Sitzungssaal blieben, beschlossen schließlich mit 45 zu 5 Stimmen eine Ausdehnung der Amnestie bis zum Stichtag 15. August. Vorbedingung für einen Straferlaß soll sein, daß die Rebellen vor Inkrafttreten des Gesetzes die Waffen abgegeben haben. „Die Folge jeder Einschränkung wäre neues Blutvergießen“, kommentierte Parlamentspräsident Gustavo Tablada die Entscheidung, die von den Sandinistischen Abgeordneten und einer Handvoll Dissidenten der UNO-Fraktion getroffen wurde.
In den vergangenen Monaten hatte sich in den nicaraguanischen Bergen zunehmend das Faustrecht durchgesetzt. Ein Dutzend Rebellengruppen unterschiedlicher politischer Provenienz, aber auch Banditen, die meist in Uniform und mit Kriegswaffen operieren, verunsichern die Gegend. Einige Gruppierungen verstehen sich als politischer Arm ziviler Parteien. So empfingen die Kommandanten der rechten „Nordfront 3-80“ wiederholt Vizepräsident Virgilio Godoy und andere konservativer Politiker als Besucher. Die Organisationen radikaler Sandinisten können zumindest auf die Unterstützung einiger lokaler Parteifunktionäre zählen.
Seit die Amnestie in Aussicht gestellt wurde, hat sich die Mehrzahl der Kämpfer in sogenannten Waffenstillstandszonen eingefunden. Wenn Chamorro das Amnestiegesetz unterzeichnet, steht ihrer Entwaffnung nichts mehr im Wege. Die wirkliche Lösung des bewaffneten Konfikts hängt jedoch, so warnen einige Kommentatoren, davon ab, ob es der Regierung gelingt, den Rebellen Land und Arbeit zu verschaffen.
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