■ Verhandeln in Grosny nach dem russischen Revirement: Umrisse der Zauberformel
Am Dienstag letzter Woche, als Präsident Jelzin per Ukas die Anwesenheit russischer Truppen in Tschetschenien auf ewig festschrieb, schien es, als sei am Frieden in diesem Lande kein Politiker mehr interessiert, außer den Mitgliedern der Verhandlungsteams in Grosny.
Mit der praktischen Rücknahme seines Dekrets hat Boris Jelzin den Fortgang der Verhandlungen wieder ermöglicht. Mit der für Moskau unannehmbaren Forderung der Tschetschenen nach sofortiger Anerkennung ihrer Unabhängigkeit, hat die russische Delegation aber weiterhin eine harte Nuß zu knacken. Sie steht vor der Aufgabe, eine Zauberformel für Souveränität zu finden, die nicht in Unabhängigkeit ausartet und die tschetschenischen Unterhändler einlullt. Die russische Forderung, den endgültigen Status Tschetscheniens erst nach Wahlen im Ländchen unter internationaler Aufsicht mit den daraus hervorgehenden Siegern zu definieren, trifft vorerst noch auf Widerstand bei den Freischärlern. Doch der könnte schon bald an dem Wunsch vieler ihrer Führer im Felde zerschellen, sich des obstinaten Generals Dudajew politisch zu entledigen, der heute niemanden mehr kommandiert.
Außerdem hat sich das russische Verhandlungsteam letzte Woche zwei wichtige Kommandohöhen im eigenen Staate einverleibt. Delegationschef Wjatscheslaw Michajlow wurde Minister für Nationalitätenfragen und stellvertretender Premier, anstelle des über den Ereignissen von Budjonnowsk gestürzten Jegorow. Der habilitierte General Anatoli Kulikow, bisher Oberkommandeur der vereinigten föderalen Truppen in Tschetschenien, rückte auf den Posten des bisherigen Innenministers Jerin auf. Kulikow hatte zu Beginn mit Abbruch der Verhandlungen gedroht, falls man ihm nicht binnen dreier Tage den Diversanten Schamil Bassajew aushändige. Seitdem hat er sich aber bemüht, seine Reputation zu reparieren. Der General gilt als vorsichtig und diplomatisch. Trainieren konnte er diese Tugenden seit 1988 als Kommandeur der Truppen des Innenministeriums im nord- und transkaukasischen Wehrkreis. Als frischgebackener Minister erklärte er seine Bereitschaft, die bereits erzielten Übereinkünfte über russischen Abzug und tschetschenische Abrüstung schon jetzt, vor der Klärung der politischen Fragen, in die Tat umzusetzen. Daß es weiterhin zu blutigen „Mißverständnissen“ kommt, dafür werden die Militärs schon sorgen. Indirekt gewährleisten sie damit den Grosnyer Unterhändlern täglich neuen Gesprächsstoff, auch jenseits der vorerst unlösbaren Probleme. Barbara Kerneck, Moskau
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