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Ulrich Gutmair Ausgehen und rumstehenIn Gefahr und höchster Not bringt der Klassiker den Tod

Ernst Jünger hat jeden Morgen vor der Arbeit eine Zigarette geraucht, um den Geist anzuregen. Bei der einen Kippe blieb es dann. Er wurde fast 103. Ohne Exzess hat Disziplin also keinen Sinn, in der Überschreitung bestätigt sich das Maßhalten. Umgekehrt gilt: Kein Exzess ohne Disziplin. Das Übers-Ziel-Hinausschießen gelingt paradoxerweise am Besten, wenn man es nicht übertreibt. Wer sich um elf schon die Kante gibt, wird den Moment, wenn die Jalousie hochgezogen und ein neuer Tag feierlich begrüßt wird, nicht erleben.

Das kann man wissen, wenn man hin und wieder in den Club oder anderswo zum Tanzen geht. Nicht mehr zu übersehen ist das, wenn man mit den Augen des Servicepersonals auf die wogende Masse blickt, weil man hinterm Tresen oder DJ-Pult steht.

Am Freitag hatte ich das Vergnügen, mit zwei anderen Musik liebenden Kolleginnen bei der taz-Weihnachtsfeier aufzulegen. Das ist Privileg und Bürde zugleich, weil eine taz-Weihnachtsfeier sich grundsätzlich nicht von einer Weihnachtsfeier anderswo unterscheidet, zumindest was die Musik angeht. Es wurden erwartbar viele „MeToo“-Witze gemacht, und der auf dem Dancefloor bedrängte Kollege lachte den Übergriff einer leicht betrunkenen Kollegin einfach weg.

So was kann der DJ nur in wenigen freien Momenten beobachten, weil er sich auf Weihnachtsfeiern in Multitasking üben muss. Zum einen gilt es, den Dancefloor zu füllen, ihn dann aber nicht zu verlieren, wobei hier dasselbe wie in Krisensituationen gilt: In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod. Wer glaubt, einfach nur Klassiker abspielen zu können, wird von der Crowd bestraft. Es bringt aber auch nichts, nur ästhetisch besonders wertvolles Material zu spielen, das niemand kennt. Noch schwieriger wird das Ganze bei einer altersmäßig und auch sonst diversen Tänzerschaft. Da gibt es die Rock-’n’-Roller, die was von den Stones hören wollen. Die Disco Dancers, die es funky brauchen. Diejenigen, die am liebsten zu den Hits ihrer Jugend tanzen. Und welche, die oft ausgehen und auf besonders ausgeklügelte Signale warten.

Multitasking ist verlangt, weil anders als im Club auf der Weihnachtsparty kein DJ-Ansprechverbot besteht. Am diszipliniertesten sind die Punks, die sich einfach freuen, wenn Slime läuft. Andere stehen alle zehn Minuten auf der Matte und wünschen sich was. Manchmal sind die Wünsche leicht zu erfüllen, wenn sie sich in den Fluss fügen oder für eine überraschende Wende gut sind.

An Telepathie grenzt, wenn eine Tänzerin, die man den ganzen Abend über im Nebel nicht gesehen hat, plötzlich vor einem steht und sich das Stück wünscht, das man sich gerade als nächstes zu spielen vorgenommen hat: Ja, bitte, hier ist es!

Für einen allein kann der Job des Schamanen mit Kundenkontakt nervenaufreibend sein, weswegen Ping-Pong die ideale Lösung ist. Selbst wenn die Partnerin plötzlich selbst im Gewühl des Dancefloors verschwindet, macht das nichts, weil eine gute Party dem anarchistischen Prinzip der Selbstorganisation folgt. Schon steht jemand anders mit einer Idee und gezücktem Telefon neben dir, und weiter geht’s.

So stellt sich zwischen Disziplin und Exzess eine geordnete Unordnung her, die schön wie das Leben ist. Und eben das will auf einer Weihnachtsfeier ja zelebriert werden. In der dunkelsten Zeit strahlen die Augen am hellsten.

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