Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim: "Im Bett mit den Anderen"
Liebe und Familie sprengen die Grenzen von Sprache und Nationalität, meinen Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck. Sie wenden sich gegen das Doppelpass-Verbot.
Die Globalisierung findet im Bett und am Küchentisch statt, lautet die These von "Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter". Das neue Buch von Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck öffnet den Blick für einen radikalen Wandel in den Familien. Ort, Nationalität und Sprache sind heute nicht mehr unauflöslich miteinander verbunden. Paare, Eltern und Kinder, Großeltern und Enkel erleben Gemeinsamkeit via Skype. In ein und derselben Familie werden verschiedene Sprachen gesprochen. Frauen arbeiten als Nannys in fremden Familien. Kinder werden von Leihmüttern auf fernen Kontinenten ausgetragen.
taz: Frau Beck-Gernsheim, Herr Beck, Sie sind verheiratet, schreiben gemeinsam Bücher, lehren an verschiedenen Orten. Fällt Ihre Beziehung unter den Begriff der Fernliebe?
Elisabeth Beck-Gernsheim: Einen Teil unserer gemeinsamen Lebensjahre hatten wir eine Fernliebe, einen größeren Teil nicht. Ich hatte immer Lust, ein Jahr nach England oder Frankreich zu gehen, dann aber traf ich diesen jungen Menschen, der grade neben mir sitzt. Ich bin nur drei Monate weggegangen, aber nach Indien, das war fern genug: Damals gab es noch kein Skype, noch keine E-Mails, es gab noch nicht mal Handys.
Ulrich Beck: Man kann vielleicht mit einem leisen ironischen Unterton sagen: Die Liebe hat zwei Feinde, einmal die Ferne und einmal die Nähe. Unser Buch macht deutlich, dass es wichtig ist, diese zwei Arten von Partnerschaftlichkeit und Liebe in ihren Gegensätzen zu verstehen.
Wann haben Sie erkannt, dass sich in den Familien ein grundlegender Wandel abspielt?
Beck: Wir haben vor über zwanzig Jahren gemeinsam das Buch "Das ganz normale Chaos der Liebe" geschrieben. Darin haben wir zu zeigen versucht, wie Individualisierung, Freiheit und Gleichheit auf Liebes- und Traditionsbeziehungen prallen und die Vielfalt ausbricht. Später haben wir gemerkt, dass wir dabei in den Gleisen einer gängigen Annahme geblieben sind: dass Liebende immer an einem Ort sein müssen, dass sie eine gemeinsame Sprache haben und einen gemeinsamen Pass - das sind Selbstverständlichkeiten, die heute immer weniger gelten. Heute hat jedes dritte Kind unter fünf in Deutschland Migrationshintergrund, mit steigender Tendenz.
Elisabeth Beck-Gernsheim (* 1946) befasst sich mit der sich verändernden Rolle der Familie in der Gesellschaft. Sie lehrt an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Ulrich Beck (* 1944) gilt seit seinem Buch "Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne" (1986) als einer der bedeutendsten Soziologen. Er lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
1990 erschien das gemeinsam verfasste Werk "Das ganz normale Chaos der Liebe" (Suhrkamp).
Beck-Gernsheim: Ihre Frage war, wann wir das gemerkt haben. Das war Mitte der Neunziger und hing mit dem kleinen Wörtchen Globalisierung zusammen. Wenn Individualisierung und Globalisierung in der Familie zusammentreffen, entsteht eine neue Dynamik. Sarrazin hat gesagt: Deutschland schafft sich ab. Er irrt sich. Deutschland würde sich abschaffen, wenn es nicht die vielen Kinder mit Migrationshintergrund gäbe.
Sie führen den Begriff "Weltfamilien" ein. Was ist das?
Beck: Weltfamilien haben zwei Dimensionen. Die eine besteht darin, dass Familien oder Paare gleicher kultureller Herkunft über Kontinente hinweg zusammenzuleben versuchen. Die andere, dass unterschiedliche Kulturen und Vergangenheiten an einem Ort zusammenleben. In beiden Fällen ist die Voraussetzung, dass es nicht um mehr oder weniger fragile Paarbeziehungen geht, sondern um existenzielle Beziehungen, die einem größeren familialen Netzwerk zugehörig sind - Großeltern, Verwandte verschiedenen Grades, die für die Familienmitglieder eine Bedeutung haben in Bezug auf Identität, materiellen Status und so weiter.
Beck-Gernsheim: Schaut man in die neuere Literatur und die Medien, so werden die Familien- und Liebesverhältnisse oft mit dem Wort „Ende“ verknüpft: Ende der Familie, Ende der Liebe. Da wird nur das gesehen, was untergeht, und nicht das, was entsteht. Indem wir mit unseren Analysen die Augen öffnen für die Globalisierung der Intimität und Elternschaft, der Heiratsmigration, Hausarbeitsmigration usw., wird sichtbar, dass im Zentrum der Intimität eine andere innere Logik im Entstehen ist, die erst entschlüsselt werden muss.
Beck: Wir wenden uns gegen den – zugespitzt gesagt – „falschen Universalismus“ von Liebestheorien, die von „der“ Intimität in „der“ Moderne sprechen – so Anthony Giddens “Wandel der Intimität“, Sven Hillenkamp „Das Ende der Liebe“ und Eva Illouz in ihrem neuen Buch „Warum Liebe wehtut“, so auch wir früher in unserem Buch „Das ganz normale Chaos der Liebe“. Sie alle sehen nicht, dass das, was sie als Universalismus der modernen Liebe und ihrer Freiheitsparadoxien beschreiben, nur eine der möglichen Entwicklungsrichtungen erfasst. Nur diejenige nämlich, die sich unter den historischen, kulturellen, ökonomischen und politischen Bedingungen des Westens herausgebildet hat. Die unerfüllten Versprechen der Vereinbarkeit von Freiheit, Gleichheit und Liebe werden nun im Zeitalter der Fernliebe und Weltfamilien fundamental in Frage gestellt.
In vielen Familien in den reichen Ländern leben heute Hausangestellte aus der Dritten Welt. Früher hieß es: "Unser Reichtum basiert auf ihrer Armut." Nach der Lektüre Ihres Buches ist man versucht zu sagen: "Unsere Quality Time basiert auf ihrer Mutterliebe."
Beck: Die Emanzipation in westlichen Haushalten, der Versuch, Gleichheit auch in der Verpflichtung zu Hausarbeit zwischen Männern und Frauen herzustellen, ist an Grenzen gestoßen.
Beck-Gernsheim: An die männlichen Grenzen!
Beck: Die Bereitschaft seitens der Männer, häusliche Aufgaben zu übernehmen, ist verbal sehr viel größer als im tatsächlichen Verhalten, um es freundlich auszudrücken. Um die Gleichberechtigung annähernd möglich zu machen, bedarf es einer Zusatzperson, die wichtige Verpflichtungen des Haushalts übernimmt.
Beck-Gernsheim: Nicht nur des Haushalts, sondern auch der Fürsorge und Zuwendung.
Beck: Auch in südkoreanischen Aufstiegsfamilien wird angesichts der Doppelverdienerehe Personal aus anderen Ländern eingesetzt. Das ist eine große Entwicklung der globalen Arbeitsteilung.
Beck-Gernsheim: Beck-Gernsheim: Das Spannende ist, dass in diese Konstruktion ein Dilemma eingebaut ist: Die andere Frau, ob sie von den Philippinen oder aus Rumänien kommt, soll für unsere Kinder da sein und sie liebevoll umsorgen. Aber sie soll doch bitte nicht unseren Platz im Kinderherz einnehmen. Sie soll sie lieben, und sie soll sie auch nicht lieben. Ähnliches passiert bei den Leihmüttern, etwa aus Indien, die in der arbeitsteilig globalisierten Fließband-Reproduktion eingesetzt werden: Sie sollen einerseits sorgsam umgehen mit den Ressourcen, die sie in ihrem Bauch heranwachsen lassen, aber sie sollen sie dann auch nach neun Monaten abgeben. Das klappt aber nicht immer, dass man die emotionale Bindung nach neun Monaten abschneiden kann.
Die Nanny kommt aus Polen, aber wer passt auf ihre Kinder auf? Eine Ukrainerin. Sie beschreiben die transnationalen Ketten des Kinderhütens.
Beck-Gernsheim: Ich stelle mir vor, wenn ich auf dem Mars lebte und auf die Erde hinuntersähe, dann würde ich Ströme von Frauen sehen, die von Polen nach Deutschland gehen, um dort in Familien zu arbeiten, Ströme von Frauen, die von der Ukraine nach Polen gehen, um dort in Familien zu arbeiten. Ist das nicht absurd?
Beck: Es gibt in Osteuropa inzwischen mütterlose Regionen.
Sie schreiben, dass Liebe für diese Mütter bedeutet, von ihren eigenen Kindern weggehen zu müssen.
Beck: In der Tat, das ist die Paradoxie: Die Kinder lieben, heißt, sie verlassen zu müssen. Denn das ist die Grundlage, mit der die Mütter versuchen, ihre Kinder zu fördern. Die Mütter erfahren das einerseits als Schmerz und formulieren es andererseits als Rechtfertigung. Die Kinder hingegen geben die Vorwürfe, dass die Mutter sie verlassen hat, nie auf. Wenn man die Kinder befragt, äußern sie oft, sie lebten lieber in Armut mit ihren Müttern zusammen als getrennt. Es entsteht aus der globalen Spaltung der Mutterliebe ein Konflikt, der nur sehr schwer zu lösen ist.
Beck-Gernsheim: Als ich solche Fälle von Hausarbeitsmigrantinnen im Seminar an der Uni behandelt habe, haben einige Studentinnen gesagt: „Nie, unter keiner Bedingung würde ich meine Kinder zurücklassen. Und wenn, dann würde ich die Kinder eben mitnehmen.“ Da meldete sich eine andere, die selbst aus einem anderen Land kam, und sagte: „Hast du eine Ahnung, wie schwierig es ist, über die Grenze zu kommen, alleine schon? Und dann noch mit zwei Kleinkindern?“ Da wurden die Mädels schon etwas nachdenklicher.
Die Nanny, die ihre Kinder zurücklassen muss, die verliebten Professoren aus verschiedenen Ländern, der Familienclan, der über Kontinente verstreut ist: Kann man diese unterschiedlichen Lebensverhältnisse, Klassenlagen, Motivationen wirklich auf einen Begriff bringen?
Beck: Wir stehen vor dem Problem, dass wir mit den alten Begriffen nicht mehr angemessen arbeiten können. Dass die "kosmopolitische Liebesbeziehung" oft in einer bestimmten Klasse stattfindet, ist zwar richtig, aber nur ein Teil der Realität. Es gibt ähnliche kosmopolitische Erfahrungen an der Spitze und am Boden der Gesellschaft. Die Hoffnung auf Aufstieg und eine bessere Zukunft führen häufig zur Mobilität über Kontinente hinweg und in Weltfamilien hinein. Das beinhaltet ein Stück Kosmopolitismus von unten: Mehrsprachigkeit, eigene Weisen, mit Regeln und Gesetzen umzugehen, sie für die eigenen Zwecke zu nutzen, wirtschaftliche Netzwerke zu knüpfen. Das in seiner ganzen Vielfalt zum Thema zu machen, zu erschließen, zu vergleichen, gelingt glaube ich erst, indem man den Begriff der Weltfamilien prägt.
Beck-Gernsheim: Etwas, was wir im Buch nicht drin haben, aber systematisch hineingehören würde, wenn man Ihre Frage bedenkt, ist die Tatsache, dass Weltfamilien gerade häufig die nationalen Klassengrenzen sprengen. Weil sie etwa durch Flucht und Vertreibung im Heimatland eine ganz andere Position innehaben, als hier, wo sie womöglich Asylbewerber sind.
Beck: Und weil sie die Weltungleichheit in der Familie erleben. Bisher haben wir es in der Soziologie so definiert, dass die Mitglieder eines Haushalts und einer Familie in der Schicht- und Klassenanalyse als Einheit angenommen werden. Dabei wird unterstellt, diese Einheit sei in sich relativ gleich. Es gibt zwar Hierarchien zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern, aber eine gemeinsame Schichtlage für die Familienangehörigen. Wir haben es jetzt mit Familien zu tun, wo gerade die Weltungleichheiten, wo die Weltklassengegensätze Teil der Intimbeziehungen sind.
Sie schreiben über die gut 9 Millionen, meist weiblichen, oft gut ausgebildeten Philippinas (das sind zehn Prozent der Gesamtbevölkerung), die im Ausland in Familien die Kinder oder die Alten betreuen.
Beck: Man muss sehen, dass man das globalisierte Dienstpersonal eben nicht in einem nationalen Kontext sozialer Ungleichheit verorten kann. Es gibt für sie immer eine doppelte Position in der sozialen Hierarchie, diejenige im Herkunftsland und diejenige im Ankunftsland. Dieses Ineinander der Bezugsrahmen – sozialer Aufstieg hier, sozialer Abstieg dort, und beides gleichzeitig – macht die Status-Diskrepanz der Migranten ganz allgemein aus. Im neuen Land mögen Hausarbeits- oder Heiratsmigrantinnen auf Diskriminierung treffen, in der Heimat gewinnen sie oft an Ansehen und Einfluss. Erst wenn man diese Fusion der sich wechselseitig ausschließenden nationalen Bezugsrahmen ins Blickfeld rückt, kann man das Verhalten der Migranten entschlüsseln.
Beck-Gernsheim: Hinzu kommt oft eine soziale Ungleichheit, die dann entsteht, wenn etwa Fernliebespaare vom Herkunftsland des einen in das Herkunftsland des anderen wechseln.
Beck: Wenn man als Frau in Deutschland lebt, und mit einem Franzosen verheiratet ist, der kein Deutsch spricht, dann ist es für ihn eine schwierige Situation, weil alles über die Frau vermittelt werden muss. Wenn sie nach Frankreich ziehen, und die Frau kann nur wenig Französisch, dann dreht sich die Lage völlig um. Das heißt, allein die Entscheidung über den Wohnort von binationalen Familien entscheidet wesentlich über die Ungleichheit der Partner.
Beck-Gernsheim: Mancher Prinz wird plötzlich wieder zum Frosch.
Sie erwähnen in Ihrem Buch auch jene Familien, in denen einer oder beide Ehepartner in der zweiten, dritten Generation aus einer Einwandererfamilie kommen. Sie meinen, dass man auch hier Merkmale der Weltfamilie in Anwendung bringen kann, weil es weiterhin Beziehungen zum Herkunftsland der Großeltern oder Eltern gibt. Was ist politisch zu tun, wenn diese Art von Weltfamilien in einem Land wie Deutschland normal wird?
Beck-Gernsheim: Die bürokratischen Hindernisse, die gemischt-nationalen Eheschließungen im Weg stehen, müssen abgebaut werden. Wenn Sie nach dem 88. Stempel gefragt werden, weil Sie einen Äthiopier heiraten wollen, dann geben Sie es womöglich auf. Vor allem muss in Deutschland das Verbot des Doppelpasses fallen. Dieses Verbot nimmt weder die Wirklichkeit der Betroffenen wahr, noch die Realität des deutschen Staates. Geschätzte 1,5 bis 2 Millionen Menschen haben bereits die doppelte Staatsbürgerschaft, die offiziell nicht zugelassen ist.
Sie beschreiben, wie gut der exotische Andere zum romantischen Ideal der Liebe passt, das sich weltweit durchgesetzt hat. Sie zeigen aber auch, dass diese Exotik an einem bestimmten Punkt oft umschlägt. Dass einer irgendwann die eigene Tradition wiederentdeckt, die vorher gar nicht wichtig erschienen war. Das ist ein dialektischer Umschlag, der auch im Politischen bemerkbar ist: Globalisierung ist in vielerlei Hinsicht bereichernd, und führt zugleich zur Rückbesinnung auf regionale Traditionen. Pointiert gefragt: Wie weltoffen sind Weltfamilien?
Beck: Von Weltfamilien auf Weltoffenheit zu schließen wäre ein eklatanter Fehler. Im Gegenteil: Da Weltfamilien die Fundamente von Tradition und Natur in Zweifel ziehen, entstehen Gegenbewegungen, die die alte Liebes-, Geschlechter- und Familienordnung zu retten suchen. Weltfamilien können folglich nicht nur als Geburtsstätten für Weltoffenheit gelten, sondern auch als Geburtsstätten für globalisierte, fundamentalistische, anti-moderne Weltverschlossenheit.
Beck-Gernsheim: Und doch gilt: Die "Anderen" der Welt kommen in die Mitte der Mehrheitsgesellschaft. Wir lieben sie und leben mit ihnen in unseren Küchen, Wohnzimmern, Schlafzimmern.
Das Zusammenleben mit den Anderen ist nicht nur exotisch und schön, es führt mitunter zu Konflikten.
Beck: Wir alle halten das, was uns selbstverständlich ist, für ein universelles Gesetz. In Weltfamilien treffen diese Universalismen aufeinander und brechen ein Stück zusammen. Wie geht man mit so einer Situation um? Was scheitert, was beginnt da?
Beck-Gernsheim: Im besten Fall öffnet man sich der Geschichte des anderen. Und im anderen Fall kracht's.
Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: "Fernliebe - Lebensformen im globalen Zeitalter". Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 280 Seiten, 19,90 Euro
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