: Ulmer Atempause auf dem Müllberg
Ludwigsburg hilft vorläufig „als Tageslösung“ aus der Klemme/ Oberbürgermeister Gönner: „Noch keine Entwarnung“/ Grüne forderten Deponie auf Stadtgebiet gegen den Müll-Tourismus/ Kampf um umstrittene Verbrennungsanlage ■ Aus Ulm Heide Platen
Müllnotstand in Ulm — auf dem Bahnhof der schwäbischen 110.000-Einwohner-Stadt an der Mündung der Iller in die Donau stinkt es tatsächlich. Das ist aber nicht der Müll, sondern die Kanalisation wegen Bauarbeiten. In der Stadt ist vorerst Entwarnung gegeben worden. Oberbürgermeister Ivo Gönner (SPD) betritt den Saal im buntbemalten Rathaus mit federndem Schritt. Den schwarzen Schnauzer energisch gesträubt, signalisiert er dynamische Handlungsfähigkeit. Er hatte in der vergangenen Woche mit einem spektakulären öffentlichen Auftritt den Müll-Notstand ausgerufen.
Ulm gehört, wie Heidelberg, zu jenen Städten, die keine eigene Entsorgungskapazität mehr haben. Die Stadt exportierte bisher allerlei Müll nach Frankreich und saß, als dort in der vergangegen Woche die Grenzen wegen des Aufdeckens illegal untergemischter Medizinmüll-Transporte aus Deutschland dichtgemacht wurden, buchstäblich auf ihrem Dreck. Die Franzosen hatten Verantwortliche festgenommen, die Lastwagen postwendend zurückgeschickt. Der lautstarke Hilferuf des Oberbürgermeisters war nur die Spitze des Müllbergs. Andere Kommunen signalisierten ähnliche Probleme. Die Orte um die Deponie „Litzholz“ mußten mit einer Zwangseinweisung des Ulmer Mülls rechnen und drohten, die Einfahrt mit Traktoren zu blockieren. „Litzholz“ liegt im Alb-Donau-Kreis, der eigentlich Partner der Stadt Ulm im Zweckverband Thermische Abfallverwertung Donautal (TAD) ist. Die Deponien im Alb-Donau-Kreis aber sind fast voll, die Kapazitäten knapp, auch wenn der Kreis kürzlich Waldflächen aus dem Hause derer von Thurn und Taxis für eine Schlackendeponie erwerben konnte. Dies wiederum rief Bürgerwiderstand auf den Plan.
Währenddessen türmte sich der Müll in der Umladestelle in Grimmelfingen in zwei Hallen und im Freien zu stinkenden Bergen auf. Seit Mittwoch kann Gönner, und darauf ist er sichtlich stolz, „tageweise“ in den Landkreis Ludwigsburg liefern lassen, der dies als „pure Selbstverständlichkeit“ gegenseitiger kommunaler Hilfe anbot. Aber: „Eine Entwarnung ist nicht gegeben. Wir hangeln uns im Moment von Tag zu Tag.“ Gönner erhielt auf seine dramatischen Brandbriefe an 37 Gemeinden 14 Rückmeldungen, darunter auch kurz- und mittelfristige Angebote. Als erste reagierte die Stadt Freiburg: auch sie habe kaum noch Platz. Bei den Ludwigsburgern sind in den letzten drei Tagen schon je 160 Tonnen untergebracht worden. Die nehmen den Dreck allerdings nur an, wenn sie zugesichert bekommen, daß sie den Müll wieder loswerden, wenn in Ulm die eigene Verbrennungsanlage in Betrieb geht. Und das kann dauern. 17.000 Unterschriften sammelten Einwender gegen den geplanten Standort Donautal. Auch Gönner weiß, daß es schwierig sein wird, einen Vertrag auf die möglicherweise ferne und unsichere Zukunft hin abzuschließen. Optimistisch rechnete er mit dem Baubeginn für Ende 1993. Dennoch: „Es herrscht immer noch Müllnotstand.“
Auf der Müllumladestelle in Grimmelfingen herrscht rege Geschäftigkeit, dirigiert von Konrad Muth. Im blütenweißen Hemd organisiert er den Abtransport der flusenumwehten, dampfenden, atemberaubend stinkenden Berge. Einmal täglich, sagt der Oberbürgermeister, komme er hier vorbei. Das spricht für seine Kondition. Die Abfallmenge, die die Umladestelle hinter Muths Bürobaracke mit den idyllischen Sonnenblumenbeeten verläßt, rollt an diesem Tag vorne schon wieder pausenlos rein.
Gönner hatte versichert, es werde streng kontrolliert. Ein Mitarbeiter erläutert das System der beschilderten Container, in die getrennt sortiert wird. Die beiden jungen Männer mit dem Auto voller Gerümpel müssen ganz schön hin und her laufen: Pappe, Papier, Styropor, „aber bitte ohne die Chips“, hier das eine, dort das andere. Die Spanplatte muß zurückgeschleppt werden. „Ist das kein Holz?“ Doch, aber nicht unbehandelt. Der Kunde wirkt allmählich ganz verunsichert, blickt auf eine Stahlschiene und fragt: „Aber das ist doch Metall?“ Alles in allem, weiß der Kontrolleur, „sind die Leute in den letzten Jahren schon verantwortlicher geworden“.
Abfallberater Lutz Schönbrodt kennt seine Ulmer genau. Er kontrolliert Mülltonnen in Haushalt und Gewerbe. Manchmal werden sie, mit einem lakonischen Aufkleber versehen, einfach stehengelassen: „Dieser Müllbehälter wurde nicht entleert, da der Anteil der wiederverwertbaren Stoffe zu hoch ist.“ Die Bio-Tonne wird kommen, wenn die Kompostierungsanlage fertig ist. Sorgen machen ihm einige Arztpraxen, die die speziellen Müllbehälter der Stadt zwar erhalten haben, aber offensichtlich nicht benutzen. Sie müßten pro abgelieferter Einwegtonne allerdings auch 25 bis 45 Mark zahlen. Schade findet er es auch, daß nach den Sturmschäden Obst, Laub und Gartenabfälle in den Mülltonnen landeten.
In der Stadt ist dennoch eine neue Nachdenklichkeit eingezogen. Im Reformhaus Kober fällt, so die Auskunft, „nur noch sehr wenig Müll an“. Der Verband der Branche erarbeite außerdem gerade ein System, Ware „vom Hersteller bis zum Einzelhandel“ in wiederverwendbaren Paletten statt in Kartons und Styroporverpackungen anzuliefern. Im Café am Münster ist der Müll auch noch nicht rückgestaut, obwohl es einen Aufruf an die Gewerbetreibenden gab, ihren Abfall bis zum Wochenende zurückzuhalten. Daß der jetzt nach und nach zusätzlich zur täglichen Ration von 160.000 Tonnen nachgeliefert wird, läßt den Müllberg der Stadt auch nicht gerade schrumpfen.
Inzwischen fordern die Grünen, daß eine Deponie „auf Stadtgebiet kein Tabu-Thema“ mehr sein dürfe. Sie seien schließlich immer gegen den Müll-Tourismus gewesen. Der BUND begnügte sich mit Bio-Tonne und Einwegsteuer. Die Junge Union plädierte ebenfalls für Müllsparen. In der Gemeinde Blaubeuren produzieren die Bürger seit einem Jahr statistisch rund 40 Kilo weniger Müll — noch genau 94,2 Kilo Hausmüll jährlich pro Person. Sie zahlen, wenn sie wollen, daß ihre Mülltonne geleert wird, einen „Müllbändel“ zum Aufkleben. Vorsortiertes zum Recyceln wird abgeholt. Das Banderolensystem hat schon Nachahmer gefunden. Währenddessen signalisierte Frankreich, daß es verbrenn- oder wiederverwertbaren Müll wieder annehmen wird. Für Ulm mit seinem davon nicht erfaßten Deponie-Müll fällt eine Entscheidung möglicherweise am Montag beim Treffen des deutsch-französischen Umweltrates.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen