Ukrainische Para-Athletin: Stärker als Russland
Jana Stepanenko hat bei einem russischen Raketenangriff ihre Beine verloren. Mit Prothesen läuft die 13-Jährige bei den großen Laufevents dieser Welt.
Sie tritt an, um Geld einzuwerben. Sie sammelt für eine Prothese. Ein Soldat, der im Krieg sein Bein verloren hat, braucht sie. Nicht nur in diesem Stadion kennt man Jana Stepanenko. Die Geschichte des Mädchens hat Millionen Ukrainer bewegt und beinahe überall auf der Welt Menschen erreicht.
Drei Jahre ist es nun her, als sich Janas Leben von Grund auf verändert hat. Es war ein Tag, den sie zusammen mit ihrer Familie erlebt hat, ein schwieriger Tag, ein trauriger. Hunderte Menschen drängten sich an diesem 8. April 2022 am Bahnhof von Kramatorsk, einer umkämpften Stadt im Gebiet Donezk. Die Menschen warteten auf einen Zug, mit dem sie an einen sichereren Ort im Westen des Landes evakuiert werden sollten. Da feuerte das russische Militär eine ballistische Rakete vom Typ Totschka-U mit Streuladung auf die Wartenden ab. Solche Raketen sind in der Lage, im Umkreis von Hunderten Metern für Zerstörungen zu sorgen. 61 Menschen sind durch die Rakete getötet worden, 120 wurden verletzt. Der Angriff sorgte weltweit für Entsetzen.
Janas Großmutter verlor ihr Leben bei diesem Akt der russischen Aggression. Ihrer Mutter Natalia fehlt seitdem der linke Unterschenkel. Und die damals 11-jährige Jana war an beiden Beinen schwer verletzt. Von einem war beinahe der ganze Unterschenkel abgetrennt, beim anderen fehlten Fuß und Knöchel. Ihr Zwillingsbruder Jaroslaw, der im Chaos der Explosion am Bahnhof herumgeirrt war, blieb unverletzt. Später erinnerte sich Mutter Natalia an den ersten Schock nach dem Angriff: „Ich schaute zu Jana, dann habe auf ich auf ihre Füße geschaut. Sie hatte keine mehr. Ich versuchte aufzustehen, da sah ich erst mein Bein, es hing nur noch an den Sehnen.“
Die drei wurden zunächst nach Dnipro gebracht, wo die Erstversorgung stattgefunden hat. Natalia und Jana wurden operiert. Dann wurden sie zur Reha nach Lwiw gebracht. Auf einem der Fotos aus diesen schrecklichen Monaten nach dem Raketenangriff ist Natalia Stepanenko mit ihren Kindern im Flur eines Krankenhauses in Lwiw zu sehen.
Sie sitzt im Rollstuhl, neben ihr Jaroslaw, der den Rollstuhl seiner Zwillingsschwester schiebt. Natalia Stepanenko, deren Mann mittlerweile im Krieg gefallen war, versuchte alles, um mit der Situation irgendwie zurecht zu kommen – zum Wohle ihrer Tochter und ihres Sohnes, die durch das Erlebte schnell beinahe schon erwachsen wurden. Mehrere Monate lang wurden Mutter und Tochter von den Ärzten in Lwiw behandelt und auf ein Leben mit Prothesen vorbereitet.
Spezialprothesen nicht erhältlich
Doch die benötigten Spezialprothesen waren zu jener Zeit in der Ukraine nicht erhältlich. Familie Stepanenko musste in die USA fliegen, um sich welche zu besorgen. Und so kam die Familie aus dem Örtchen New York im Gebiet Donezk – deutsche Siedler hatten dem Weiler im 19. Jahrhundert diesen Namen gegeben – nach San Diego. Etwa ein Jahr lebten die Stepanenkos in den USA. Dort machten Natalia und Jana ihre ersten Schritte mit Prothesen. Der Rehabilitationstherapeut Peter Hersh hat täglich mit ihnen gearbeitet. Er hat in seiner Praxis Hunderte von Patienten behandelt, darunter Veteranen der Kriege in Irak und Afghanistan.
Aber jeden Tag war er aufs Neue von Janas eisernem Charakter überrascht. So sagte er es der BBC in einen Bericht über Janas neues Leben. Etwas viel Schlimmeres könne es nicht geben, als sich vorzustellen, wie ein kleines Mädchen durch die Hölle eines russischen Raketenangriffs geht, sagte Hersh da. Und: „War ich überrascht, als wir uns das erste Mal trafen? Ja, allerdings. Sie hat die Hölle durchgemacht! Putin will die Ukraine zerstören, aber ein elfjähriges Mädchen kann er nicht aufhalten. Schaut sie euch an: Sie wurde in die Luft gesprengt, aber sie ist unzerstörbar“, meinte Hersh über seine Patientin.
Ein Jahr Rehabilitation
Ein Jahr lang arbeiteten Mutter und Tochter daran, wieder laufen zu können. Es gab Rückschläge. Jana musste sich in den USA einer weiteren Operation unterziehen. Doch bald lernte sie sogar das Fahrradfahren. Heute kennen viele Ukrainer ihre Geschichte. Schon bevor sie angefangen hat, für Laufevents zu trainieren, machte ihr Schicksal die Runde in der Ukraine. „Sie hat mehr innere Stärke als das russische Militär, das versucht hat, sie zu töten. Jeden Tag schreitet sie selbstbewusster in ein neues, glückliches Leben“, schrieb Elena Selenskaja, die Frau des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, im August 2022 auf X und postete dazu ein Video, das Janas erste Gehversuche zeigt. Wie Steine an den Füßen hätten sich die Prothesen angefühlt, erinnert sich Jana selbst an diese Zeit. „Anfangs war ich unsicher, ich musste lernen, das Gleichgewicht zu halten, aber dann ging es los, alles passte.“
Seit ihrer Rückkehr aus den USA leben die Stepanenkos in Lwiw. Der ukrainische Fußballklub Schachtar Donezk, der seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine 2014 in Lwiw Quartier genommen hat, hat der Familie eine Wohnung besorgt. Jana, glühende Anhängerin von Schachtar, und ihr Bruder Jaroslaw hatten bald Freunde gefunden in der Stadt. Einer von ihnen gehört zu den Soldaten, die bei der Verteidigung des Stahlwerks Asowstal in Mariupol eingesetzt waren. Noch immer fällt es Jana schwer, Nachrichten über den Krieg zu verfolgen. Zu tief sitzt das Erlebte. Und doch wurde sie zu einem Beispiel der Widerstandskraft für das Land. Sie begann, mit Prothesen zu laufen, um auf die Probleme der Kriegsopfer aufmerksam zu machen und um Geld für Veteranen zu sammeln.
Herbst 2023 beim Marathon
Angefangen hat alles, als sie im Herbst 2023 zwei Kilometer beim Lviv-Marathon gelaufen ist. Sie war der unumstrittene Star der Veranstaltung. Dafür hatte sie den Umgang mit speziellen Laufprothesen gelernt. Und im April 2024 zeigte Jana beim Boston-Marathon, einem der bedeutendsten Stadtläufe überhaupt, was sie kann. Dabei verwirklichte sie nicht nur ihren eigenen Traum, sondern auch den des verwundeten Soldaten Alexander Rjasny. Der hatte bei der Verteidigung von Saporischschja sein rechtes Bein verloren. Nun lief Jana, um Spendengelder für eine Sportprothese einzuwerben.
Viermal pro Woche hat sie sich auf das Abenteuer Boston vorbereitet: zwei Tage mit einem Rehabilitationsspezialisten und zwei Tage mit professionellen Sporttrainern. Sie fing mit ganz kurzen Distanzen an: 1.200 Meter mit den Sportprothesen – mehr war zu Beginn nicht zu schaffen.
Fünf Kilometer in Boston
Obwohl ihre Ärzte und Betreuer skeptisch waren, schaffte es Jana, in Boston fünf Kilometer zurückzulegen. Auch ihre Mutter Natalia konnte sich das lange nicht vorstellen. „Die Trainer haben uns gesagt, dass sie vielleicht 1,5 bis 2 Kilometer laufen kann. Sie hat ja auch kaum Erfahrung. Sie konnte auch nur zwei Monate trainieren. Wir haben jedenfalls nicht erwartet, dass sie diese fünf Kilometer schafft“, sagte sie.
Als sie ein Jahr später, Anfang März in Tokio wieder fünf Kilometer gelaufen ist, wussten ihre zahlreichen Bewunderer in der Ukraine bereits, wozu sie in der Lage ist. In Tokio ist sie wieder mit einem Spendenziel angetreten. Gemeinsam mit der Lwiwer Reha-Klinik „Unbroken“, die sich auf die Rehabilitation von Menschen mit Prothesen spezialisiert hat, sammelte Jana Geld für Sportprothesen für den Veteranen Olexander Schawnenko.
Gefeiert wurde sie dafür im Stadion von Lwiw bei einem Spiel von Schachtar, zu dem sie zusammen mit Schawnenko eingeladen worden ist. Die Botschaft: Kein Problem und kein Krieg kann Jana brechen.
Jetzt führt sie nicht nur das normale Leben einer 13-Jährigen, sie trainiert regelmäßig, nimmt an Wettkämpfen teil, fährt Fahrrad oder Roller. Und sie hat eine Mission: „Ich möchte Kinder unterstützen, die ebenfalls ihre Beine verloren haben und nicht mehr laufen können. Ich möchte, dass sie meine Auftritte sehen und sich sagen: Ja, das kann ich auch! Ich kann auch laufen.“ Das sagte Jana nach dem Marathon in Tokio. Sie träumt von einer Zukunft als Profisportlerin. Schritt für Schritt will sie sich diesem Traum nähern. Ihr nächstes Ziel: 10 Kilometer. Dafür trainiert sie.
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